274 8 29. Der Bundesrat als Organ des Reiches.
von einem Urteilsspruch ab. Behörden zur Entscheidung von Thron-
folgestreitigkeiten gibt es in keinem deutschen Staate.
Zweifelhafter kann es sein, ob Art. 76, Abs. 1 auf Thronfolge-
streitigkeiten Anwendung findet. Er setzt voraus »Streitigkeiten zwischen
verschiedenen Bundesstaaten«e.. Er ist also keinenfalls anwendbar,
wenn der Streit schwebt unter Angehörigen eines landesherrlichen
Hauses, von denen keiner zugleich Oberhaupt eines anderen Bundes-
staates ist; denn hier sind »verschiedene Bundesstaaten« am Streit
zweifellos nicht beteiligt. Aber auch wenn der Landesherr eines deut-
schen Staates die Thronfolge in einem anderen deutschen Staat bean-
sprucht, muß das Gleiche gelten. Denn der »Staat« kann kein Thron-
folgerecht haben, sondern nur der Fürst und zwar nicht in seiner
Eigenschaft als Vertreter seines Staates, sondern nur auf Grund seiner
persönlichen Abstammung oder anderer in seiner Person begründeten
Rechtstitel'!.. Der Fall, daß ein Staat als solcher ein Recht darauf
habe, daß ihm unter gewissen Voraussetzungen ein anderer Staat
anwachse, kann als ein nur theoretisch ausgedachter, der im Reich
tatsächlich nicht vorkommen kann, außer Betrachtung bleiben. Wenn
man aber annimmt, daß die Ausdrücke Bundesstaaten und Bundesglieder
in der Reichsverfassung identisch sind, und daß unter den Bundes-
gliedern die Bundesfürsten für ihre Person, nicht nur als Organe der
Bundesstaaten, zu verstehen sind, so kommt man allerdings zu dem
Resultat, daß Art. 76, Abs. 1 auf alle nicht privatrechtlichen Streitig-
keiten unter deutschen Bundesfürsten anwendbar sei?). In dieser Aus-
legung des Art. 76, Abs. 1 hat sich der Bundesrat sowohl 1885 in der
Braunschweigschen als auch 1898 in der Lippeschen Thronfolgesache
für zuständig erklärt).
Unzweifelhaft ist ferner, daß der Bundesrat die Legitimation seiner
Mitglieder zu prüfen hat. Diese Prüfung kann, wie bereits oben
S. 250 bemerkt worden ist, sich auch darauf erstrecken, ob die Voll-
macht von dem berechtigten Vollmachtgeber erteilt ist, und dadurch
1) Mit Recht bemerkt Binding a.a.0., daß der Staat nicht das Subjekt, son-
dern der Thron das Objekt des Streites sei.
2) Seydel hebt wiederholt hervor, daß Bundesglieder nur die Souveraine
sind (z. B. Kommentar S. 132) und erklärt die Ausdrücke Bundesstaaten und Bundes-
glieder für gleichbedeutend (so z. B. ausdrücklich in der Deutschen Juristenzeitung
III, S. 483 a. Anf.); er müßte also konsequenterweise zu dem Resultat kommen, daß
Streitigkeiten zwischen Bundesfürsten Streitigkeiten „zwischen verschiedenen Bun-
desstaaten“ sind; dieser Konsequenz weicht er aber mit einem logischen Seiten-
sprunge aus.
3) Für diese Ansicht läßt sich geltend machen, daß Art. 76 Abs. 1 der RV. zu-
rückzuführen ist auf Art. 11, Abs. 4 der Deutschen Bundesakte von 1815. Die Trag-
weite dieser Bestimmung wurde aber durch den Bundesbeschluß vom 16. Juni 1817
dahin festgestellt, daß die Bundesvers. diejenige Behörde ist, bei welcher alle
und jede Streitigkeiten der Bundesglieder unter sich anzu-
bringen sind. Vgl. v. Meyer, Staatsakten II, S. 64 ff.; Zachariä, Staatsr.
I, S. 732.