Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

376 8 40. Der Reichskanzler. 
wie dies hinsichtlich des Kaisers und des Bundesrates geschehen ist. 
Der Reichskanzler vereinigt in sich eine Doppelstellung; er ist teils 
das Organ, durch welches der König von Preußen seine Mitgliedschafts- 
rechte im Reiche ausübt, teils der oberste Reichsbeamte, der kaiser- 
liche Reichsminister. Nur wenn man beide Stellungen auseinander- 
hält, verschwindet das scheinbar Widerspruchsvolle und gewinnt 
namentlich auch die verwickelte Lehre von der Verantwortlichkeit des 
Reichskanzlers Klarheit. 
Nach dem Entwurf der norddeutschen Bundesverfassung war eine 
solche Doppelstellung für den Reichskanzler nicht in Aussicht ge- 
nommen; dieser Entwurf enthielt lediglich diejenigen Bestimmungen, 
welche der jetzige Art. 15 der Reichsverfassung aufstellt. Der Bundes- 
kanzler sollte keine Bundesbehörde, sondern nur der Bevollmächtigte 
des Königs von Preußen zum Bundesrat und der Vorsitzende dieser 
Körperschaft sein. Nach diesem Entwurf war der Kanzler, wie Fürst 
Bismarck in der Sitzung des Reichstags vom 5. März 1878 sagte, »ein- 
fach das, was man in Frankfurt in bundestäglichen Zeiten einen 
Präsidialgesandten nannte, der seine Instruktionen von dem 
preußischen Minister der auswärtigen Angelegenheiten zu empfangen 
hatte und der nebenher das Präsidium im Bundesrat hatte«. 
Bei der Beratung des Entwurfs im Reichstage wurde aber die 
Stellung des Kanzlers im Organismus des Reichs wesentlich umgestaltet, 
indem dem jetzigen Art. 17 der Reichsverfassung (Art. 19 des Entwurfs) 
die Bestimmung beigefügt wurde, daß die Anordnungen und Verfü- 
gungen des Bundespräsidiums zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung 
des Bundeskanzlers bedürfen, welcher dadurch die Verantwortlichkeit 
übernimmt. »Nun wurde durch den Art. 17« — sagt Fürst Bismarck 
in der zitierten Reichstagsrede — »die Bedeutung des Reichskanzlers 
plötzlich zu der eines kontrasignierenden Ministers und nach 
der ganzen Stellung nicht mehr eines Unterstaatssekretärs für deutsche 
Angelegenheiten im auswärtigen preußischen Ministerium, wie es 
ursprünglich die Meinung war, sondern zu der eines leitenden 
Reichsministers heraufgehoben« !). Diese fundamentale Aenderung 
hat im Wortlaut der Verfassung einen sehr unvollkommenen Ausdruck 
gefunden. Denn nur eine einzelne Konsequenz der Ministerstellung 
des Reichskanzlers ist im Art. 17 sanktioniert worden, so daß die 
Ministerialgewalt des Reichskanzlers auf einem Rückschluß aus dieser 
Bestimmung beruht, also nach Inhalt und Umfang verfassungsmäßig 
unbestimmt und darum unbegrenzt geblieben ist. Es sind ferner die 
beiden, im Art. 15 und im Art. 17 begründeten, wesentlich ver- 
schiedenen Funktionen des Kanzlers verfassungsrechtlich un- 
1) Eine sehr anschauliche Darstellung dieser Entwicklung gibt Hänela. a. 0. 
Vgl. auch Preuß a.a.0. S. 426ff. und meinen Vortrag über die Wandlungen der 
deutschen Reichsverf. a. a. O., sowie die eingehende Erörterung von Graßmann 
im Arch. f. öff. R. Bd. 11, S. 309 ff. (1896).
	        
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