Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

8 40. Der Reichskanzler. 377 
vermittelt neben einander stehen geblieben, gleichsam nur in einer 
Art von Personalunion mit einander verbunden worden, während 
tatsächlich eine um so engere Verschmelzung der durch beide 
gegebenen Befugnisse und Machtmittel in derselben Hand stattgefun- 
den hat. 
I. Der Reichskanzler als Bevollmächtigter 
des Königs von Preußen. 
1. Durch den Art. 15 der Reichsverfassung ist die rechtliche Not- 
wendigkeit gegeben, daß der Reichskanzler preußischer Bevoll- 
mächtigter im Bundesrate ist. Zwar läßt der Wortlaut auf den ersten 
Blick die Deutung zu, daß der Kaiser auch einen Bevollmächtigten 
eines anderen Staates zum Reichskanzler ernennen und ihm den Vor- 
sitz im Bundesrate und die Leitung der Geschäfte übertragen kann; 
bei näherer Erwägung erweist sich diese Deutung aber als rechtlich 
unmöglich, ganz abgesehen von den tatsächlichen Gründen, 
welche es als völlig unzulässig erscheinen lassen, daß der Reichskanzler 
nicht zugleich preußischer Bevollmächtigter sei. Denn jedes Bundes- 
mitglied kann jederzeit seine Bevollmächtigten aus dem Bundesrate 
abberufen, den Reichskanzler aber ernennt der Kaiser und kann nur 
der Kaiser entlassen. Wäre es nun möglich, daß der Kaiser den Be- 
vollmächtigten eines anderen Staates zum Reichskanzler ernennt, so 
könnte sich der Fall ereignen, daß dieser Staat die Ernennung zum 
Bundesratsmitglied zurücknimmt, der Kaiser dagegen die Entlassung 
dem Reichskanzler nicht erteilt; es würde alsdann der Reichskanzler 
nicht zugleich Mitglied des Bundesrates sein, was nach Art. 15 der 
Verfassung unzulässig ist‘). Der Reichskanzler führt demnach mit 
rechtlicher Notwendigkeit im Bundesrate die Präsidialstimme Preußens 
als Bevollmächtigter des Königs. Vgl. oben S. 278 ff. 
2. Die Bundesratsmitglieder sind keine Reichsbeamten und haben 
in keiner Hinsicht die Rechte und Pflichten derselben; ebensowenig 
hat das einzelne Mitglied des Bundesrates in irgend einer Beziehung 
die Funktion einer Reichsbehörde. Dies gilt vollständig auch vom 
Reichskanzler. Weder als Mitglied des Bundesrates noch als Vor- 
sitzender desselben ist der Reichskanzler Reichsbeamter, und wenn er 
im Bundesrate die Präsidialbefugnisse ausübt, handelt er nicht als 
Reichsbehörde, sondern als Bevollmächtigter des Königs von Preußen. 
Er ist daher an die Instruktionen gebunden, welche ihm der König 
von Preußen erteilt, und diesem gegenüber verantwortlich dafür, daß 
er seiner Instruktion gemäß gehandelt hat?). Von einer Verantwort- 
1) Anderer Ansicht Hensela. a. O.S. 9, 11fg. Siehe dagegen Graßmann 
a. a. 0. S. 332 fg. 
2) Vgl. die Aeußerungen des Fürsten Bismarck im verfassungsberatenden Reichs- 
tage von 1867, Stenogr. Berichte S. 376 und besonders 393; ferner im Norddeutschen 
Reichstage von 1869 am 16. April, S. 401 ff. (Siehe oben S. 238, Note 2.)
	        
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