8 40. Der Reichskanzler. 385
der dem Reichskanzler untergeordneten obersten Reichsbehörden er-
nannt werden und zwar entweder für den ganzen Umfang oder für
einzelne Teile ihres Geschäftskreises'). Für jedes Ressort ist daher
in einem bestimmten Zeitpunkt immer nur eine einzige Person geeignet,
zum Stellvertreter bestellt zu werden; die Stellvertreterbefugnis ist aber
dessenungeachtet nicht von Rechts wegen mit der Amitsstellung als
Vorstand einer obersten Reichsbehörde verknüpft, sondern muß per-
sönlich nach Maßgabe der Vorschriften im $ 1 des Gesetzes ver-
liehen werden.
4. Die Stellvertreter sind befugt zur Gegenzeichnung der Anord-
nungen und Verfügungen des Kaisers und zur Wahrnehmung der
sonstigen dem Reichskanzler durch die Verfassung und die Gesetze
des Reiches übertragenen Obliegenheiten ($ 1 des Gesetzes. Für Re-
gierungshandlungen eines Stellvertreters ist derselbe politisch verant-
wortlich und dadurch ist zugleich der Reichskanzler von dieser
Verantwortlichkeit entlastet. Damit aber nicht hierdurch die dem
Reichskanzler zustehende oberste und einheitliche Leitung der Regie-
rungsgeschäfte alteriert und seine Machtfülle geschmälert werde, behält
der $ 3 des Gesetzes ihm die Befugnis vor, »jede Amtshandlung auch
während der Dauer einer Stellvertretung selbst vorzunehmen.« Dadurch
bleiben sämtliche Ressorts trotz der Ernennung von Stellvertretern
der Direktive und selbst unmittelbaren Eingriffen des Reichskanzlers
unterworfen; infolge dessen bleibt er aber auch in einem gewissen
Grade verantwortlich. Denn die politische Verantwortlichkeit
besteht auch für Unterlassungen und kann mithin auch in der Richtung
geltend gemacht werden, daß der Reichskanzler von der ihm nach 83
cit. zustehenden Befugnis keinen Gebrauch gemacht habe.
Da demnach die Stellvertreter zwar persönlich verantwortlich in
der Art konstitutioneller Minister sind, zugleich aber nicht die Stellung
höchster Ressortchefs haben, sondern dem Reichskanzler in Führung
ihrer Amtsgeschäfte dienstlich untergeordnet sind, so kann man sie als
verantwortliche Unterminister charakterisieren?. Es ist
dies eine Organisation, die in einigen Zügen in der Gestaltung des
englischen Kabinetts ihr Vorbild hat.
1) Zu Ressortstellvertretern können daher nach dem gegenwärtigen Behörden-
organismus des Reiches bestellt werden: die Vorstände des Reichsamtes des Innern,
des auswärtigen Amtes, des Marineamtes, der Verwaltung der Reichseisenbahnen, des
Reichspostamtes, des Justizamtes, des Schatzamtes und des Kolonialamtes. Insofern
in diesen Aemtern, was bei den meisten derselben zutrifft, teils Geschäfte der un-
mittelbaren Verwaltung, teils der Beaufsichtigung der einzelstaatlichen Verwaltung
geführt werden, erstreckt sich die Stellvertretungsbefugnis nur auf die ersteren. Jo&l
S. 768 fg. Ueber die Stellvertretung des Reichskanzlers in Angelegenheiten der
Reichsbank vgl. die Spezialbestimmungen des Bankgesetzes vom 14. März 1875,
S 26, 27, Abs. 2; sie sind durch das Gesetz vom 17. März 1878 nach der Regel lex
generalis non derogat legi speciali priori nicht aufgehoben worden. And. Ans.
Jo&ls. 783, 784. Ueber Elsaß-Lothringen siehe 8 68.
2) Vgl. Smend S. 334g.