Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Zweiter Band. (2)

138 8 61. Der Abschluß von Staatsverträgen. 
gegeben sind, müssen vielmehr auch in dem Falle zur Anwendung 
kommen, wenn mittelst eines Staatsvertrages die verfassungsmäßige 
Grenzlinie der Reichskompetenz abgeändert werden soll; folglich kann 
der Kaiser nicht durch die Verfassung selbst die Befugnis erhalten 
haben, ohne Zustimmung des Bundesrates und Reichstages Staatsver- 
träge über Gegenstände zu schließen, welche nicht zur verfassungs- 
mäßigen Kompetenz des Reiches gehören. 
Man könnte darnach versucht sein, den Art. 11 in der Art zu 
interpretieren, daß der Kaiser zwar Verträge nur innerhalb der dem 
Reiche zustehenden Kompetenz abschließen dürfe, daß aber die Kompe- 
tenz des Reiches in zwei Kreise zerfällt, von denen der eine durch 
die im Art. 4 der Reichsverfassung aufgezählten Angelegenheiten ge- 
bildet wird, der andere dagegen durch solche Angelegenheiten, auf 
welche die Kompetenz des Reiches durch irgend eine andere Bestim- 
mung der Reichsverfassung oder der Reichsgesetze erstreckt wird'). 
Dies ist aber nicht weniger absurd. Darnach würden z. B. die Finanzen 
des Reiches, welche im Art. 4 der Reichsverfassung als selbstverständ- 
lich unter den zur Kompetenz des Reiches gehörenden Angelegenheiten 
nicht besonders aufgeführt worden sind, zu denjenigen Gegenständen 
gehören, auf welche die beschränkende Vorschrift des Art. 11, Abs. 3 
keine Anwendung findet. Dasselbe würde von: allen denjenigen An- 
gelegenheiten gelten, auf welche die Reichskompetenz nachträglich 
erstreckt worden ist, ohne daß der Wortlaut des Art. 4 eine Verände- 
rung erfahren hat. Es würde in der Tat dem Umstande, daß eine 
Befugnis des Reiches gerade im Art. 4 der Reichsverfassung und nicht 
durch eine andere Gesetzesbestimmung anerkannt oder begründet ist, 
eine ganz wunderbare Wirkung auf den Abschluß von Staatsverträgen 
beigelegt worden sein. Art. 4 würde hinsichtlich der Gesetzgebung 
die Kompetenz des Reiches gegen die Kompetenz der Einzel- 
staaten, dagegen hinsichtlich der Vertragsschließung die Kompetenz 
des Kaisers gegen die Kompetenz des Bundesrates und 
Reichstages abgrenzen. 
Andererseits stehen dem Reiche bei vielen Angelegenheiten, welche 
nach Art. 4 der Reichsverfassung in den Bereich der Reichsgesetzge- 
bung gehören, auch Verwaltungsbefugnisse zu. Der Art. 4 bestimmt 
durchaus nicht, daß das Reich hinsichtlich der daselbst aufgezählten 
Gegenstände auf die Beaufsichtigung und den Erlaß von Gesetzen be- 
schränkt ist; einige der im Art. 4 aufgezählten Angelegenheiten 
sind ausschließlich, andere zum größten Teil in die unmittelbare Ver- 
waltung des Reiches genommen; bei diesen sind Verordnungen 
des Kaisers oder Reichskanzlers möglich. Soweit die Verwaltungsbe- 
fugnisse des Reiches sich erstrecken oder dem Kaiser oder Reichs- 
kanzler das Verordnungsrecht gesetzlich übertragen ist, könnten durch 
1) Dies behauptet Hiersemenzel ], S. 51, Nr. 3. Vgl. dagegen Riedel 
S. 106, Ziff. 11.
	        
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