32 8 55. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung.
es den vom Bundesrat und Reichstag beschlossenen Gesetzentwürfen
die Sanktion zu erteilen hätte. Auch bei den im Art. 5, Abs. 2 bezeich-
neten Gesetzen kommt die bevorzugte Kraft der Präsidialstimme nur
innerhalb des Bundesrates zur Geltung; auch bei ihnen ist davon
keine Rede, daß neben der Zustimmung des Bundesrates und des
Reichstages noch das Plazet des Kaisers erforderlich sei, aber nach
dem Grundsatz exceptio firmat regulam folgt aus dem Abs. 2 des Art. 5,
daß der Regel nach Reichsgesetze auch gegen den Willen des
Kaisers zustande kommen können, wofern nämlich die preußischen
Stimmen im Bundesrate in der Minorität geblieben sind’). Folglich
kann unmöglich derjenige Willensakt, welcher den Gesetzentwurf zu
einem Reichsgesetz umwandelt, ein Willensakt des Kaisers sein’).
Auch Art. 17 der Reichsverfassung bestätigt dies. Denn er über-
trägt dem Kaiser die Ausfertigung und Verkündigung der Reichsgesetze
und die Ueberwachung der Ausführung derselben, also nur Funktionen,
welche die Sanktion des Gesetzes bereits voraussetzen.
Aus der Betrachtung der rechtlichen Grundlinien der Reichsver-
fassung ergibt sich vielmehr ein anderes Resultat.
Träger der souveränen Reichsgewalt ist die Gesamtheit der deut-
schen Staaten, als ideelle Einheit gedacht. Nur von ihr kann daher
der eigentliche Gesetzgebungsakt, die Sanktion der Reichsgesetze, aus-
gehen. Die Gesamtheit der deutschen Landesherren und freien
Städte erteilt den Entwürfen zu Reichsgesetzen die Sanktion, welche
sie in Reichsgesetze umwandelt. In allen Fällen aber, in denen die
deutschen Bundesglieder ihren Anteil an der Reichsgewalt auszuüben
haben, ist der Bundesrat das dafür verfassungsmäßig bestimmte
Organ, nicht der Kaiser. Denn der Kaiser handelt nach freier und
höchst eigener Entschließung, die Bundesratsmitglieder stimmen nach
der ihnen erteilten Instruktion. Der Kaiser ist daher wohl geeignet,
die Rechte des Reiches gegen die Gliedstaaten, gegen die Reichs-
angehörigen und gegen auswärtige Mächle zu verwalten, niemals aber
den Anteil der Bundesglieder an der Reichsgewalt zu verwirklichen.
Dazu ist allein der Bundesrat geeignet, dessen Mitglieder rechtlich
keinen eigenen Willen haben, sondern nur die Werkzeuge sind, durch
welche der Wille der Einzelstaaten und deren Landesherren erklärt
1) Auch Frickera.a. O.S. 9, 10 legt dem Art. 5, Abs. 2, obwohl er ihn nicht
für unbedingt durchschlagend hält, „ein nicht unbeträchtliches Gewicht für die
herrschende Ansicht bei“.
2) Auch die überwiegende Mehrzahl der Schriftsteller stimmt darin überein, daß
dem Kaiser die Sanktion der Gesetze nicht zusteht. Vgl. Thudichum, Verfassungs-
recht S. 8; Hiersemenzell, S. 70, 71; Riedel S. 22,25; v. Held S. 106;
v. Mohl S. 290; Seydel, Kommentar S. 172; v. Gerber S. 246; Frormann
im Archiv £. öff. R. XIV, S. 31ff.; G. Meyer, Anteil der Reichsorgane S. 59ff. und
Staatsrecht $ 163, woselbst Note 5 sich weitere Literaturangaben finden, ferner
DambitschS. 171fg. und die daselbst angeführte Aeußerung Bismarks, Ge-
danken und Erinnerungen II Kap. 33.