44 8 55. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung.
nicht zu finden; man würde völlig seine tatsächliche Bedeutung ver-
kennen, wenn man daraus den Schluß ziehen wollte, daß es in die
Willkür des Kaisers gestellt sei, ob er ein Gesetz ausfertigen wolle
oder nicht. Die Rücksicht auf den Bundesrat und auf den Reichstag,
auf die öffentliche Meinung und auf das eigene Ansehen machen es
ganz unmöglich, daß der Kaiser die ihm übertragene Befugnis wider-
rechtlich mißbrauche.
Erkennt der Kaiser an, daß das Gesetz in tadelloser Weise den
Vorschriften der Reichsverfassung gemäß zustande gekommen ist, so
ist die Ausfertigung desselben seine verfassungsmäßige Pflicht ').
2. Wenn der Kaiser die Ausfertigung erteilt, so wird damit in
formell unanfechtbarer und rechtswirksamer Weise konstatiert, daß
das Gesetz verfassungsmäßig zustande gekommen ist.
Dadurch beantwortet sich die Frage nach dem sogenannten richter-
lichen Prüfungsrecht der Verfassungsmäßigkeit der Reichsgesetze von
selbst. Diese in der deutschen Rechtsliteratur so überaus häufig er-
örterte Frage wird von der überwiegenden Mehrzahl der Schriftsteller
zugunsten des richterlichen Prüfungsrechts entschieden ?.. Man sagt:
In verfassungswidriger Weise errichtete oder die Verfassung verletzende
Gesetze seien nur Scheingesetze; die Gerichte, welche berufen sind,
die Geseize anzuwenden, müssen vor allen Dingen prüfen, ob ein sich
als Gesetz bezeichnender Erlaß auch in der Tat den Erfordernissen
Wort „Ausfertigung“ neben „Verkündigung“ in ganz überflüssiger und gedankenloser
Weise in den Art. 17 der Reichsverfassung gesetzt worden sei, hat wenig Wahr-
scheinlichkeit für sich und widerspricht anerkannten Auslegungsregeln. In Ueber-
einstimmung mit den von mir entwickelten Grundsätzen wird das Erfordernis der
Ausfertigung und die rechtliche Bedeutung derselben in ausführlicher Beweisführung
jetzt auch von Jellinek S. 321ff. dargetan. Vgl]. ferner die sehr beachtenswerten
Ausführungen von Fr. Tezner in den (Wiener) Juristischen Blättern 1887, Nr. 4 fg.;
auch Dyroff S. 852fg. und Otto Mayer, Verw.R. I, S. 282.
1) Hierüber herrscht fast allgemeine Uebereinstimmung. Vgl. Thudichum
S. 94; Hiersemenzell, S. 70; Riedel S. 108; Seydel, Kommentar S. 171fg.;
Westerkamp S. 130fg.; v. Pözl S. 111; v. Rönne ], S. 230; Kolbow,
Archiv V, S. 100fg.; Meyer, Anteil S.59 ff. und Staatsrecht 8 163, Note 5, woselbst
sich noch zahlreiche weitere Literaturangaben finden. Auch Frickerin der mehr-
fach zitierten Abhandlung neigt sich der Ansicht zu, daß der Kaiser zur Ausferti-
gung (oder wie er meint: Sanktion) und Verkündigung der vom Bundesrat beschlos-
senen Gesetze verpflichtet sei, und bemängelt nur die Begründung, welche diese
Ansicht bisher erhalten hat, als nicht ausreichend. Nur v. Martitz S. 53, Anm. 45
und Dernburg, Pandekten $ 25, Anm. 5 vertreten die entgegengesetzte Ansicht.
2) Die Literatur über diese Frage ist fast in allen Lehrbüchern des Staatsrechts
und Privatrechts zusammengestellt und soll deshalb hier nicht von neuem aufgeführt
werden. Die vollständigste Darstellung der Dogmengeschichte gibt die Abhandlung
von Bischof in der Zeitschrift f. Zivilrecht und Prozeß (Gießen 1859) Bd. 16,
Ss. 245 ff., 585 ff.; seit dem Erscheinen dieser Schrift ist die Literatur aber noch sehr
erheblich angewachsen. — Hervorgehoben muß werden, daf3 die Erörterungen oben
im Texte sich nur auf die Reichsgesetze beziehen, also nicht auf Verordnungen
des Reiches, von denen unten $ 58 die Rede sein wird.