Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Zweiter Band. (2)

70 8 57. Die Wirkungen der Reichsgesetze. 
kann das Rechtsmittel der Revision nicht gegründet werden, weil das 
letztere nur zulässig ist, wenn eine Rechtsnorm nicht oder uicht 
richtig angewendet worden ist. Strafprozeßordnung $ 376, Zivilpro- 
zeßordnung $ 550. Dies ist in der prozeßrechtlichen Literatur und in 
der Rechtsprechung anerkannt '). Hier treten die formelle Gesetzes- 
kraft und die materielle Wirkung der Rechtsnorm in deutlich erkenn- 
baren und praktisch sehr belangreichen Gegensatz. Aber was von den 
Prozeßordnungen gilt, findet auch auf andere Gesetze Anwendung, 
wenngleich sich hier der Gegensatz nicht immer in der Rechtsprechung 
geltend machen kann. Ein besonders wichtiges Beispiel sind die Po- 
sitionen des Staatshaushaltsetats. Durch die Sanktion des Etatsge- 
setzes wird jede einzelne Position desselben mit formeller Gesetzes- 
kraft ausgestattet, ohne daß sie aber dadurch den Charakter der Rechts- 
norm erhält; eine »Abänderung« des gesetzlich festgestellten Etats kann 
nur in der Form des Gesetzes erfolgen, aber eine »Abweichung« von 
den Ansätzen desselben hat nicht notwendig den Charakter der Rechts- 
widrigkeit. (Siehe Bd. 4 die Lehre vom Budgetrecht.) 
2. Die formelle Gesetzeskraft ist unabhängig davon, ob das Gesetz 
materiell in Kraft getreten ist oder nicht’). Sie tritt ein, sobald das 
Gesetzgebungsgeschäft vollendet, si lex perfecta est, d. h. das Gesetz 
verkündigtist. Das willsagen: Von diesem Zeitpunkte 
an kann das Gesetz nicht auf anderem Wege wieder rückgängig ge- 
macht oder abgeändert oder suspendiert werden, als durch einen in 
der Form des Gesetzes ergehenden Akt. Weder ein in dem publizier- 
ten Gesetz selbst bestimmter Anfangstermin seiner Geltung, noch der 
im Art.2 der Reichsverfassung in Ermangelung einer solchen Bestim- 
mung festgesetzte Anfangstermin seiner »verbindlichen Kraft« bezieht 
sich auf die formelle Gesetzeskraft °). 
Die letztere tritt immer für das ganze Gesetz in demselben Au- 
genblick ein, während die materielle Geltung für verschiedene Anord- 
nungen eines Gesetzes zu verschiedenen Zeitpunkten beginnen kann °). 
Auch wenn das Gesetz einen Tatbestand betrifft, der sich niemals ver- 
1) Vgl. Seligmann a.a. O. S. 40, 41, 105, 123, 172; Jellinek S. 245; An- 
schütz S. 77fg. Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivil- 
sachen Bd. 5, S. 366 und in Strafsachen Bd. 6, S. 27. 
2) Vgl. Dyroff S. 871. 
3) Der Unterschied zwischen der formellen und materiellen Gesetzeskraft dient 
zur Lösung der Schwierigkeiten, welche die Bedeutung des Gesetzes während einer 
sogenannten vacatio legis bereitet. Vgl. Binding in der Krit. Vierteljahrsschr. N. F. 
II, S. 522; Jellinek, Rechtliche Natur der Staatenverträge 1880, S.36; derselbe, 
‚Gesetz und Verordnung S. 329. 
4) Dies ist nicht selten der Fall. Beispiele sind das Reichsgesetz betreffend 
den Zolltarif vom 15. Juli 1879, 8 1 (Reichsgesetzbl. S. 207); das Reichsgesetz über 
den Gebrauch von Sprengstoffen vom 9. Juni 1884, 8 14 (Reichsgesetzbl. S. 64); das 
Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884, $ 111 (Reichsgesetzbl. S. 109) und vom 
28. Mai 1885. 8 17 (Reichsgesetzbl. S. 163), Novelle zur Gewerbeordnung vom 26. Juli 
1897, Art. 9 (Reichsgesetzbl. S. 706) und viele andere.
	        
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