8 58. Die Rechtsverordnungen des Reiches. 87/
Rechtsvorschrift und Verwaltungsvorschrift').
Nach der Theorie von der Teilung der Gewalten hat die Volks-
vertretung einen Anteil an der Regelung der Rechtsordnung, aber nicht
an der Leitung der Verwaltung; sie hat eine Mitwirkung an dem Er-
laß der Gesetze, aber nicht an dem Erlaß der Verordnungen. Hieraus
ergibt sich der formelle Sinn der Verordnung. So wie man einer-
seits Verwaltungsakte, an denen die Volksvertretung eine Mitwirkung
erhalten sollte, der Legislative oder Gesetzgebung zuwies, sie an die
Form des Gesetzes band, so erklärte man andererseits die Anordnung
von Rechtsregeln, falls dieselbe ohne Zustimmung der Volksvertretung
statthaft sein sollte, für eine Verordnung, d.h. man gestattete dafür
diejenigen Formen , welche im allgemeinen nur für den Erlaß von
Verwaltungsvorschriften ausreichend sind. In diesem formellen Sinne
scheiden demnach aus dem Begriff der Verordnung aus alle diejeni-
gen Verwaltungsvorschriften, welche auf dem Wege der Gesetzgebung
erlassen werden, wie z. B. der Staatshaushaltsetat, und es fallen an-
dererseits unter diesen Begriff alle Rechtsvorschriften, welche ohne
Mitwirkung der Volksvertretung zustande gekommen sind. Der for-
melle Begriff der Verordnung deckt sich mithin keineswegs mit dem
Begriff der Verwaltungsvorschrift; er umfaßt teils weniger, teils mehr;
er umfaßt im Gegensatz zum formellen Gesetzesbegriff alle Wil-
lensakte des Staates, welche im Wege der Verordnung sich
vollziehen.
Demnach zerfallen die Verordnungen (im formellen Sinn) in
Rechtsverordnungen und Verwaltungs verordnungen. Die letz-
teren werden bei der Lehre von der Verwaltung erörtert werden (siehe
8 65); die ersteren gehören in die Lehre von der Gesetzgebung; denn
sie sind Gesetze im materiellen Sinne des Wortes, jus scriptum, Rechts-
normen ?). Unter den Rechtsverordnungen sind wieder zwei Arten zu
1) Vgl. Rosin S. 27fg.; Seligmann S8. 108ff.; Jellinek S. 385fg.
2) Die Unterscheidung von Rechtsverordnungen und Verwaltungsverordnungen
ist in der neuesten deutschen Literatur fast allgemein anerkannt worden. Ihr haben
zugestimmt Gneistinv.Holtzendorffs Rechtslexikon Bd. 3, S. 1059 ff. (3. Aufl.);
v. Gerber, Grundzüge des deutschen Staatsrechts (3. Aufl.) 8 48, 53; Pröbst,
Hirths Annalen 1882, S. 238fg.; G. Meyer, Staatsrecht $ 159 und 165; Schulze,
Deutsches Staatsrecht I, 8 187; Ulbrich, Lehrbuch des österr. Staatsrechts S. 391 fg.;
Löning, Verwaltungsrecht S.229fg.; Gareis, Allg. Staatsrecht S.182fg.; Gaupp,
Württemb. Staatsrecht 8 55, S. 174; v. Stengel, Organisation der preuß. Verwal-
tung S. 28, 30fg.; Seydel, Bayer. Staatsrecht II, S. 327 ff., 355 u. A.; v. Jagemann
S. 94, 115fg. Ferner namentlich in selbständiger Entwicklung: Hänel, Studien II,
S. 62fg., Staatsrecht 1, S. 275; Rosin, Polizeiverordnungen S. 27 ff.; Seligmann
Ss. 103fg., 123; Jellinek S. 884; Anschütz, Enzyklop. S. 602ff.; Thoma,
Polizeibefehl I, S. 59 ff., 325 ff.; Fleiner, Institutionen des D. Verw.R. S. 64 ff. u. v.a.
Auch das Reichsgericht hat diese Unterscheidung wiederholt anerkant. Vgl.
die eingehende Darstellung von Hubrich das Reichsgericht. Nachzutragen ist u. a.
eine Entsch. des III. Zivilsenats v. 27. März 1908 (Entsch. Bd. 69 S. 375), in der es
heißt: „Es kann dahingestellt bleiben, wie diese Verwaltungsanordnungen auszulegen