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Eisenbahnen müssen die Beförderung von Gütern nach den Be-
stimmungen des Berner Vertrages übernehmen (Art. 5, Abs. 1) und
dürfen abweichende Vereinbarungen nur treffen, insoweit dies im Ber-
ner Vertrage ausdrücklich zugelassen ist (z. B. Art. 35).
Alles dies gilt auch von den erleichternden Vorschriften für den
Wechselverkehr mit Oesterreich-Ungarn, da sie auf Grund des 81,
Abs. 3 der Ausführungsbestimmungen zum Berner Vertrage (Reichs-
gesetzbl. 1892, S. 875) getroffen worden sind.
b) Fürdeninternen Verkehr im Reichsgebiet bildete das Allgem.
Deutsche Handelsgesetzbuch dieausschließliche Rechtsnorm. Der
Berner Vertrag hat ihm nicht derogiert, da er den Transport innerhalb
des Gebiets eines der vertragschließenden Staaten nicht betrifft, und die
Verkehrsordnung vom 15. November 1892 konnte dem Handelsge-
setzbuch nicht derogieren, weil sie keine formelle Gesetzeskraft hat
und Art. 45 der Reichsverfassung dem Bundesrat die Befugnis, das
Handelsgesetzbuch abzuändern oder zu ergänzen, nicht erteilt. Die
Verkehrsordnung von 1892 hatte dem Handelsgesetzbuche gegenüber
dieselbe Bedeutung wie die Postordnung gegenüber dem Postgesetz.
Sie war die Betätigung der Vertragsfreiheit der Eisenbahnver-
waltungen, welche die dispositiven Rechtssätze des Handelsgesetzbuchs
ihnen gelassen hatten; ihre Bestimmungen waren dem Publikum gegen-
über Vertragsfestsetzungen') über den Transport von Frachtgütern
und die Beförderung von Reisenden, den Eisenbahnbeamten gegen-
über eine Verwaltungsverordnung (Dienstbefehl) fürihre Tätig-
keit im Gewerbebetrieb der Eisenbahnen; die Beamten durften kraft
ihrer Dienstpflicht 'Transportverträge nur nach den in der Verkehrs-
ordnung formulierten Bedingungen abschließen’).
1) Entscheid. des Reichsoberhandelsgerichts vom 30. November 1875
(Entscheid. Bd. 19, S. 184) und des Reichsgerichts (Entscheid. Bd. 15, S. 156).
Vgl. Bd. 2, S. 107, Note 5. Uebereinstimmend auch die Entsch. des Reichsgerichts
vom 11. Februar 1887 (Entscheid. in Strafsachen Bd. 15, S. 206). In der Literatur
besteht darüber fast allgemeine Uebereinstimmung. Vgl. Eger, Die Eisen-
bahnverkehrsordnung. 2. Aufl. 1901. Einleitung S. XXXV. Unrichtig Schott in
Endemanns Handbuch des Handelsrechts III, S. 463 ff. und Zorn, Staatsrecht II,
S. 807. Vgl. auch Gerstnera.a. 0. S. 188.
2) Zorn, Staatsr. II, S. 308, behauptet, daß „eine grundsätzliche Veränderung
durch den Berner Vertrag eingetreten sei, welcher dem Handelsgesetzbuch de-
rogierte. Die Verkehrsordnung aber sei auf Grund und zum Vollzuge des Berner
Vertrages erlassen; demgemäß sei der Widerspruch zum Handelsgesetzbuch, weil
durch den Berner Vertrag beseitigt, gegenstandslos“. Hier enthält jedes Wort einen
Irrtum. Der Berner Vertrag bezieht sich nur auf den internationalen Verkehr,
derogierte also dem früheren Handelsgesetzb. für den Eisenbahnverkehr innerhalb
des Reichsgebietes ebensowenig, wie das neue Handelsgesetzb. dem Berner
Vertrag derogierte; die Verkehrsordnung ist nicht auf Grund und zum Vollzuge
des Berner Vertrages erlassen worden, sondern für den internen Verkehr; sie er-
hielt durch den Berner Vertrag nicht im mindesten eine andere staatsrechtl. Bedeu-
tung und sie konnte dem Handelsgesetzb. ebensowenig nach dem Berner Vertrag wie
vorher widersprechen.