Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Dritter Band. (3)

134 S 74. Das Eisenbahnwesen. 
2. Der Art. 45 der Reichsverfassung enthält ferner den Satz: 
»Das Reich wird namentlich dahin wirken, daß die 
möglichste Gleichmäßigkeit und Herabsetzung der Tarife erzielt, 
insbesondere, daß bei größeren Entfernungen für den Transport 
von Kohlen, Koaks, Holz, Erzen, Steinen, Salz, Roheisen, 
Düngungsmitteln und ähnlichen Gegenständen ein dem Bedürf- 
nis der Landwirtschaft und Industrie entsprechender ermäßigter 
Tarif, und zwar zunächst tunlichst der Einpfennigtarif einge- 
führt werde.« 
Diese Bestimmung ist der vorangehenden völlig gleichartig. So 
wie das Reich dahin wirken soll, daß übereinstimmende Betriebsregle- 
ments eingeführt werden, so soll es auch dahin wirken, daß die 
möglichste Gleichmäßigkeit der Tarife erzielt wird. 
Auch hier schließt die Fassung des Artikels die Annahme aus, daß 
das Reich die Befugnis habe, den Eisenbahnverwaltungen, sei es im 
allgemeinen, sei es für einzelne Klassen von Transportgegenständen, 
Tarife vorzuschreiben; durch ein auf Grund des Art. 4, Ziff. 8 
ergehendes Eisenbahn gesetz könnte zwar dem Bundesrat oder dem 
Kaiser eine solche Befugnis beigelegt werden, auf Grund der Reichs- 
verfassung und der gegenwärtigen Gesetzgebung besteht sie dagegen 
nicht !). 
schriften der Reichsverfassung steht auch die von mehreren Schriftstellern, z. B. 
Reineke S. 225, v. Jagemann S. 166, Dambitsch, S. 539 aufgestellte An- 
nahme — oder vielmehr Fiktion — daß die den Bundesstaaten zustehende Kompe- 
tenz von ihnen auf den Bundesrat übertragen worden sei; denn die einzelnen Bundes- 
staaten sind zur gemeinsamen Gesetzgebung über das Handelsrecht überhaupt nicht 
zuständig, und die Bundesregierungen können das Recht des Reichstages zur 
Mitwirkung an der Reichsgesetzgebung nicht dadurch ausschließen, daß sie den 
Bundesrat stillschweigend als zuständig anerkennen. Da das Reichsgericht 
an der mangelnden Zuständigkeit des Bundesrats zum Erlaß der Verkehrsordnung,, 
wie auch in anderen Fällen, keinen Anstoß nimmt und die Eisenbahnämter sie be- 
folgen müssen, auch wenn sie nur den Charakter einer Dienstvorschrift hat, so ist 
die hier erörterte Frage für die Praxis erledigt; dies nimmt ihr aber nichts von der 
theoretischen Bedeutung für das deutsche Staatsrecht und die richtige Auslegung 
der Reichsverfassung. — Uebrigens scheint der preuß. Minister der öffentlichen Ar- 
beiten selbst die Verkehrsordnung nicht für eine bindende Rechtsvorschrift zu halten, 
denn er hat im Widerspruch mit $S 7 derselben im Februar 1901 einen Ausnahmetarif 
für Futter- und Streumittel eingeführt, durch welchen gewissen Empfängern nied- 
rigere Frachtsätze als anderen gewährt wurden. Vgl. darüberE. Rosenthal, Aus- 
nahmetarif für Futter- und Streumittel 1901. 
1) Dies ist wiederholt anerkannt worden. Vgl. außer den oben S. 125fg. mit- 
geteilten Auszügen aus den Verhandlungen des verfassungsberat. Reichstages den 
Petitionsbericht in den Drucksachen des deutschen Reichstages 1872, Bd. 2, Nr. 100, 
Ss. 8ff. Vgl. ferner Stenogr. Berichte des Reichstages 1869, Bd. 2, S. 823 ff.; 1872, 
S. 858 (Minister Delbrück); 1874,75, S. 1119 ff. Auch das Reichseisenbahnamt hat dies 
in einer von ihm verfaßten und vom Reichskanzler am 5. Mai 1874 dem Bundesrate 
vorgelegten Denkschrift ausführlich dargetan. Vgl. auch Eger, Eisenbahnrecht 1910, 
S. 159 ff.; Meyer-Dochow S. 289; Hänel 1,8. 655ff.; SeydelS. 276; v.Ja- 
gemannS. 167; Reineke, Reichsverfassung S. 225. Selbst Dambitsch, S. 537
	        
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