8 82. Die Arbeiterversorgung. 289
regelt worden). Da es sich hier nicht um Arbeiter und ihnen sozial
leichgestellte Personen handelt, sondern um Personen, welche einer
wirtschaftlich höheren Klasse angehören, so ist ihre Versicherung nach
Grundsätzen geregelt, welche von den Anordnungen der Reichsver-
sicherungsordnung erheblich abweichen.
II. Die juristische Natur der sozialen Fürsorge.
Nach dem Grundprinzip der privatwirtschaftlichen Erwerbs- und
Gesellschaftsordnung ist es dem einzelnen überlassen, für Fälle zeit-
weiser oder dauernder Erwerbsunfähigkeit oder außerordentlicher Be-
dürfnisse Fürsorge zu treffen. Die formellen Hilfsmittel hierfür bietet
das Privatrecht teils durch die verschiedenen Wege der indivi-
duellen Kapitalansammlung, teils durch die Bildung von Gesellschaften
oder Korporationen zur gemeinsamen Tragung der dem einzelnen er-
wachsenden Kosten. Sparkassen, Renten- und Pensionskassen, Kranken-
und Sterbekassen, Versicherungsanstalten usw. erfüllen, obgleich völlig
innerhalb der Privatrechtsordnung und unter Beschränkung auf die
Formen und Mittel des Obligationenrechts, an ihrem Teil auch eine
»sozialpolitische« Aufgabe. Von seiten des Öffentlichen Rechts findet
diese privatrechtliche und privatwirtschaftliche Fürsorge, abgesehen
von dem gerichtlichen Schutz, nur in der öffentlichen Armenpflege
eine Ergänzung.
Die Privatrechtsordnung bietet nun allerdings in einem alle Be-
dürfnisse umfassenden Umfange die rechtliche Möglichkeit
einer solchen Fürsorge des einzelnen für sich und seine Angehörigen;
aber auch nicht mehr. Sie gewährt keine wirkliche Fürsorge;
denn da sie auf dem Prinzip der individuellen Freiheit und Selbstbe-
stimmung beruht, so setzt sie voraus, daß der einzelne von den ihm
durch das Privatrecht gebotenen Wegen freiwillig Gebrauch macht,
d. h. die erforderlichen Kapitalbeiträge einzahlt oder ansammelt. Die
Erfahrung lehrt, daß dies in ungenügendem Maße der Fall ist. Die
wirtschaftliche Lage, die Lebensgewohnheiten und der Bildungsgrad
der großen Masse der arbeitenden Bevölkerung sind unüberwind-
liche Hindernisse, daß sie sich selbst und ihre Hinterbliebenen mit
den Mitteln des Privatrechts für die Fälle, in welchen sie durch Ar-
beit ihren Lebensunterhalt zu verdienen außerstande sind, versorgen
und vor Not schützen. Soll dies in Wirklichkeit erreicht werden,
so muß die staatliche Gewalt zu Hilfe kommen und gegen den
einzelnen einen Zwang ausüben zur Ansammlung derjenigen Mittel,
welche erforderlich sind, um ihm in Zeiten der Arbeitsunfähigkeit den
Lebensunterhalt zu gewähren. Die materielle Berechtigung des Staa-
tes, einen solchen Zwang auszuüben, ergibt sich daraus, daß die wirt-
1) Entwurf. Drucksachen 1911, Nr. 1035. Kommissionsbericht Nr. 1198. Ver-
handlungen im Reichstag am 19./20. Oktober, 30. November bis 2. Dezember, 5. De-
zember 1911.