290 & 82. Die Arbeiterversorgung.
schaftliche Not der weitaus zahlreichsten Bevölkerungsklasse und die
aus dieser Not hervorgehende Unzufriedenheit ein Uebelstand ist, unter
welchem die Gesamtheit schwer leidet und welcher die öffentliche
Sicherheit, die Wohlfahrt, die Macht, ja die Existenz des Staates mit
ernsten Gefahren bedroht. In einzelnen Anwendungsfällen und für
bestimmte Personenkreise ist auch schon seit langer Zeit ein solcher
Zwang ausgeübt worden'); in neuester Zeit hat aber die Entwicklung
der sozialen Verhältnisse dazu geführt, diesen Zwang in sehr großer
Ausdehnung durchzuführen.
Der Zwang kann in doppelter Weise erfolgen. Der Staat kann
sich darauf beschränken, den einzelnen gesetzlich zu verpflichten, sich
für Fälle der Not zu versorgen, die Versorgung selbst aber dem Ge-
biete der Privatrechtsordnung überlassen, so daß Korporationen, An-
stalten oder Gesellschaften privatrechtlichen Charakters die Erhebung
und Verwaltung der Beiträge und die Auszahlung der Unterstützungs-
gelder übernehmen. In dieser Weise war z. B. die Unfallversicherung
in dem ersten, im März 1881 dem Reichstage vorgelegten Gesetzent-
wurf in Aussicht genommen. In diesem Falle beschränkt sich die
staatliche Tätigkeit einerseits auf die gesetzliche Anordnung und ver-
waltungsmäßige Durchführung des Zwanges gegen den einzelnen zum
Beitritt zu einem solchen privatrechtlichen Institut und andererseits
auf die gesetzliche Normierung der Organisation der letzteren und auf
die Beaufsichtigung ihrer Geschäftsführung. Ein solcher Zwang ist aber
in vielen Fällen unzureichend; denn er bietet keine Gewißheit, daß
die privatrechtlichen Leistungen und Gegenleistungen wirklich und
vollständig von den Beteiligten gemacht werden; er schützt die letz-
teren nicht genügend vor den Gefahren, welche ihnen aus ihrer eige-
nen Dispositionsfreiheit erwachsen. Der Staat wird sich daher ver-
anlaßt sehen, den Zwang weiter auszudehnen und die Anstalten, welche
zur tatsächlichen Durchführung der Versorgung erforderlich sind, ein-
zurichten und so weit erforderlich, sie selbst zu verwalten. Auch in
diesem Falle brauchen die vom Staate kraft seiner Öffentlichen Ge-
walt begründeten Verpflichtungen und Ansprüche nicht völlig dem
Privatrecht entrückt und zu wohlfahrtspolizeilichen Leistungen gemacht
zu werden; aber das Privatrecht ist doch in weitem Umfange durch
das öffentliche Recht verdrängt und mit dem letzteren an zahlreichen
Punkten so eng verknüpft, daß es kaum möglich ist, die privatrecht-
lichen und öffentlich-rechtlichen Elemente von einander rein auszu-
scheiden und getrennt zu erörtern.
1) Dahin gehört die gesetzliche Pflicht zu Beiträgen an Innungen (preußische
Gewerbeordnung vom 17. Januar 1845, $ 169), sowie an Knappschaften, in einzelnen
(süddeutschen) Staaten auch an die Gemeinden für Kranken- und Unterstützungs-
kassen; die Verpflichtung der Beamten zur Zahlung von Beiträgen für die Alters-
und Witwenpensionen u. dgl. Vgl. v. Woedtkein v. Stengels Wörterbuch I, S. 845,
851; Löning, Verwaltungsrecht S. 552; Rosin S.7 fg.; Piloty, Unfallversiche-
rungsrecht ], S. 10 ff.