& 88. Die Gerichtsverfassung. 439
es jedoch freigestellt, die Voraussetzungen und Bedingungen der Ver-
wendung von ständig angestellten Hilfsrichtern bei den Oberlandes-
gerichten zu regeln und auch dieselbe gänzlich auszuschließen.
4. Das Reichsgericht. Die Organisation des Reichsgerichts
ist derjenigen der Oberlandesgerichte gleichartig; es wird mit einem
Präsidenten und der erforderlichen Anzahl von Senatspräsidenten und
Räten besetzt; es werden Zivil- und Strafsenate gebildet, deren Anzahl
der Reichskanzler bestimmt. Zu dem »Präsidium« sind die vier
ältesten Mitglieder (Räte) des Gerichts zuzuziehen; im übrigen finden
die in den 8$ 61-68 gegebenen Vorschriften über den Vorsitz in den
Senaten, die Bildung der letzteren, die Verteilung der Geschäfte, die
Vertretung im Falle der Verhinderung Anwendung. Dagegen ist die
Zuziehung von Hilfsrichtern für unzulässig erklärt’).
Eigentümlich ist dem Reichsgericht eine Einrichtung, welche dazu
dienen soll, im Interesse einer einheitlichen und sicheren Recht-
sprechung Widersprüche zwischen den Urteilen der Senate zu verhüten,
nämlich die Verhandlung und Entscheidung von Rechtssachen vor
vereinigten Senaten — und zwar in Zivilsachen vor den vereinig-
ten Zivilsenaten und in Strafsachen vor den vereinigten Strafsenaten.
Die Verweisung vor die vereinigten Zivil- oder Strafsenate findet statt,
wenn in einer Rechtsfrage ein Zivilsenat von einer früheren Ent-
scheidung eines anderen Zivilsenats oder der vereinigten Zivilsenate
oder ein Strafsenat von einer früheren Entscheidung eines anderen
Strafsenats oder der vereinigten Sirafsenate abweichen will?). Wenn
ein Zivilsenat von der Entscheidung eines Strafsenats oder der ver-
einigten Strafsenate, oder ein Strafsenat von der Entscheidung eines
Zivilsenats oder der vereinigten Zivilsenate abweichen will, so bedarf
es einer Entscheidung der Rechtsfrage durch das Plenum. Dasselbe
findet statt, wenn ein Senat von der früher eingeholten Entscheidung
des Plenums abweichen will®). Die vereinigten Senate oder das Plenum
sind auf die Entscheidung der Rechtsfrage beschränkt, und diese
Entscheidung erfolgt ohne vorgängige mündliche Verhandlung‘). So-
weit die Entscheidung der konkreten Streitsache eine mündliche Ver-
handlung erfordert, erfolgt dieselbe durch den erkennenden Senat, für
welchen die Entscheidung der Rechtsfrage durch die vereinigten Senate
oder das Plenum bindend ist’). Die Zahl der Richter, welche bei den
Entscheidungen der vereinigten Senate oder des Plenums mitwirken
1) 88 132—134 a. a. O. Eine vorübergehende Ausnahme gestattete das Gesetz
vom 22. Mai 1910 Art. 12.
2) 8 137 a.a. 0. 3) 8 137, Abs. 2.
4) Jedoch ist vor der Entscheidung der vereinigten Strafsenate oder derje-
nigen des Plenums sowie in Ehe- und Entmündigungssachen und in Rechtsstreitig-
keiten, welche die Feststellung des Rechtsverhältnisses zwischen Eltern und Kindern
oder die Anfechtung einer Todeserklärung zum Gegenstand haben, der Oberreichs-
anwalt mit seinen schriftlichen Anträgen zu hören. $S 137, Abs. 3 u. 4.
5) & 137, Abs. 5.