$ 90. Die Rechtsanwaltschaft. 451
Entscheidung ist in den vor das Reichsgericht gehörigen Sachen das
Reichsgericht, in anderen Sachen das Oberlandesgericht!). Erachtet
das Gericht den Antrag für begründet, so beschließt es die Erhebung
der öffentlichen Klage und die Staatsanwaltschaft ist alsdann zur Durch-
führung dieses Beschlusses verpflichtet?). Hierdurch wird freilich eben-
sowohl die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft von den Gerichten
als die einheitliche Leitung der Staatsanwaltschaft durch ihren Chef
durchbrochen; der Beschluß des Strafsenats des Oberlandesgerichts
enthält einen für den Staatsanwalt maßgebenden Befehl. Allein es
ist nicht zu verkennen, daß die bloße Zulässigkeit des Antrages auf
gerichtliche Entscheidung an sich schon als eine Schutzwehr gegen
einen tendenziösen Mißbrauch des sogenannten Anklagemonopols der
Staatsanwaltschaft wirkt’) und daß hierin die wichtigste Bedeutung
und der eigentliche Wert der Einrichtung zu sehen ist, nicht in der
materiellen Entscheidung der einzelnen Fälle, in denen der Verletzte
von diesem Recht Gebrauch macht; mit anderen Worten: die Be-
deutung der Anordnung ist eine staatsrechtliche, nicht eine
prozeßrechtliche.
8 %. Die Rechtsanwaltschaft *).
Die rechtliche Ordnung der Rechtsanwaltschaft im Deutschen
Reiche ist bisher vom Standpunkt des Staatsrechts aus noch nicht be-
1) A. a. O0. 8 170, Abs. 3. 2)A. a. 0.8 173.
3) Freilich nur in denjenigen Fällen, in denen ein „Verletzter“ vorhanden ist;
wo durch eine strafbare Handlung lediglich die öffentliche Ordnung verletzt ist, fehlt
die rechtliche Garantie gegen eine parteiische Handhabung des Anklagerechts aus
politischen oder persönlichen Motiven. Vgl.Geyer, Lehrbuch des Strafprozeßrechts
(1880) S. 407 ff.
*Rechtsanwaltsordnung vom 1.Juli 1878. Reichsgesetzbl. S. 177. (Ent-
wurf mit Motiven in den Drucksachen des Reichstages von 1878, Nr.5. Komis-
sionsbericht ebendäselbst Nr. 173. Verhandlungen des Reichstages von
1878, Stenogr. Berichte Bd. 1, S. 12ff.; Bd. 2, S. 1237 ff.) Zu vergleichen sind auch
die Verhandlungen der Justizkommission des Reichstages über das Gerichtsverfassungs-
gesetz S. 257 ff., 404 ff., 495 ff., 721 ff. Die Rechtsanwaltsordnung ist abgeändert worden
durch das Reichsgesetz vom 22. Mai1l1910, Reichsgesetzbl. S. 772. Gebührenord-
nung für Rechtsanwälte vom. Juli 1879, Reichsgesetzbl. S. 177. (Entwurf
in den Drucksachen des Reichstags von 1879, Nr. 9. Verhandlungen des Reichstages
von 1879, Stenogr. Berichte Bd. 1, S. 17 ff.; Bd. 2, S. 894 ff., 1573, 1679.) Die Gebühren-
ordnung ist abgeändert durch die Reichsgesetze vom 1. Juni 1909 Art IV, Reichsge-
setzbl. S. 495 und vom 22. Mai 1910 Art. IX, Reichsgesetzbl. S. 771.
Kommentare zur Rechtsanwaltsordnung von Völk, Nördlingen 1878, von
Fr. Meyer, Berlin, 2. Aufl, 1892 und von Sydow, 4. Aufl., bearbeitet von Mosler,
Berlin 1900. Vgl. auch Endemann, Zivilprozeß Bd. 3, S.553ff.; G. Flach, Le
barreau Allemand, Paris 18831; Wach, Handbuch I, $53; R. Schmidt, Zivilpro-
zeßrecht 2. Aufl. $ 37, S. 222ff.; Ad. Weiszler, Geschichte der Rechtsanwaltschaft,
Leipzig 1905. Kommentar zur Gebührenordnung von Fr. Meyer, 3. Aufl., bearbeitet
von Imler, Berlin 1899, Völk, Nördlingen 1879, Sydow-Busch, 7. Aufl. 1903,
Pfafferoth, 4. Aufl. 1905 und am ausführlichsten Walter, 4. Aufl. 1904.