454 $ 90. Die Rechtsanwaltschaft.
war im wesentlichen der Standpunkt des früheren preußischen Rechts
und anderer Landesrechte. |
Andererseits kann man davon ausgehen, daß, wenngleich die Tä-
tigkeit der Rechtsanwaltschaft im ganzen einen Bestandteil der öffent-
lichen Rechtspflege bildet, doch im einzelnen Falle die Arbeit des
Rechtsanwalts im Interesse der Privatpersonen gegen Entgelt in An-
spruch genommen wird, und daß sie nicht Staatsgeschäfte im eigent-
lichen Sinn versehen, sondern für eigene Rechnung ihren Kunden
Dienste leisten. Von diesem Gesichtspunkte aus erscheint die Praxis
des Rechtsanwalts als eine gewerbliche Tätigkeit, bei welcher der Staat
nicht direkt interessiert ist, sondern für welche er nur die Bedingungen
des Betriebes normiert. Von dieser Grundlage aus gelangt man zu
dem sogenannten System der freien Advokatur, und die Rechtsanwalts-
ordnung ist alsdann lediglich ein besonderer Teil der Gewerbe-
ordnung.
Würde nun die Reichsgesetzgebung eines dieser beiden Systeme
angenommen und konsequent durchgeführt haben, so würde die Rechts-
anwaltsordnung keinen Anlaß zu staatsrechtlichen Erörterungen dar-
bieten.
Die Reichsgesetzgebung hat aber einen Mittelweg eingeschlagen , sie
hat die Rechtsanwaltschaft in einer Weise geordnet, die äußerst kom-
pliziert ist, weil sie zum Teil den Amtscharakter der Rechtsanwalt-
schaft und die demselben entsprechenden Hoheitsrechte der Einzel-
staaten, zum Teil die Freiheit des Gewerbebetriebs zur Grundlage
genommen hat. Die Ausübung der Rechtsanwaltschaft ist freigegeben,
aber doch zugleich an die staatliche Zulassung geknüpft; sie erstreckt
sich auf das ganze Reich und ist doch zugleich lokalisiert; der Rechts-
anwalt hat amtliche Obliegenheiten, die er unter gewissen Umständen
auch wider seinen Willen erfüllen muß, er ist einer Disziplinargewalt
unterworfen, aber er hat andererseits keinen staatlichen Vorgesetzten
und keine Beamtendienstpflichten ; die Rechtsanwaltsordnung ist eben-
sowohl eine Ergänzung des Gerichtsverfassungsgesetzes als der Gewerbe-
ordnung'),. Für das Reichsstaatsrecht aber ist es namentlich von
Wichtigkeit, die Grenzlinie festzustellen, innerhalb deren den Einzel-
staaten noch die Betätigung von Hoheitsrechten und die Durchführung
eines eigenen staatlichen Willens verblieben ist; von einer »Souverä-
1) G. Meyer in Hirths Annalen 1882, S. 773fg. will die Tätigkeit der Rechts-
anwälte nicht als eine in gewissem Sinne amtliche, sondern nur als gewerbliche
gelten lassen; ebenso Kaskel, Begnadigung im ehrengerichtlichen Verfahren (Ber-
lin 1911) S. 90 ff.; er meint, daß Rechtsanwaltschaft nur die „Fähigkeit“ sei, gewisse
Akte mit Rechtswirksamkeit vorzunehmen; gerade auf dieser rechtlichen Fähigkeit be-
ruht aber der amtsähnliche Charakter. Dagegen hat sich Zorn (Staatsrecht II, S. 396 ff.)
der hier entwickelten Ansicht angeschlossen. Uebereinstimmend auch das Reichs-
gericht: Entscheidungen in Zivilsachen Bd. 14, S. 285fg.; Bd. 19, S. 403 und das
Oberlandesgericht Kolmar (Reger Bd. 14, S. 181).