506 & 93. Das Begnadigungsrecht.
1. Die Begnadigungist kein Akt der Gesetzgebung,
keine lex specialis'). Sie stellt keine Rechtsregel, keine Ent-
scheidungsnorm für einen einzelnen Fall auf; sie setzt ebensowenig
einen Rechtssatz für einen einzelnen Fall außer Kraft; sie läßt viel-
mehr die bestehenden Rechtsregeln vollkommen unberührt; sie be-
seitigt oder verändert nur eine einzelne Konsequenz, zu wel-
cher die Rechtssätze in einem konkreten Falle führen. Daher erscheint
auch der Begnadigungsakt regelmäßig nicht in der Form des Gesetzes;
er bedarf nicht der Zustimmung der Volksvertretung, nicht der für
Gesetze vorgeschriebenen oder üblichen Art der Ausfertigung, nicht
der Verkündigung. Aber selbst wenn die Form des Gesetzes bei Be-
gnadigungsakten angewendet wird, was in allen Fällen möglich und
statthaft, und nach einigen Landesgesetzgebungen, insbesondere nach
Art 49, Abs.3 der preußischen Verfassungsurkunde, für die Nieder-
schlagung bereits eingeleiteter Untersuchungen erforderlich ist, so wird
die Begnadigung nicht zu einem Akte der Gesetzgebung im materiellen
Sinn; denn an dem objektiven Recht wird nichts geändert, mag der
staatliche Begnadigungsakt in dieser oder jener Form zur äußeren Er-
scheinung kommen’).
Die Rechtsregeln, welche über das Verhältnis der Landesgesetze
zur Reichsgesetzgebung gelten, können daher für die Beurteilung der
Frage, inwieweit den Einzelstaaten das Begnadigungsrecht gegenüber
den Vorschriften der Reichsstrafgesetze und der ReichsstrafprozeBord-
nung zusteht, nicht in Betracht kommen.
2. Die Begnadigung ist auch nicht ein Aktder
Rechtsprechung?) Sie ist es nicht formell, d. h. im Sinne der
Lehre von der Gewaltenteilung; denn sie gehört nicht zum Bereiche
der Gerichtsbarkeit, da sie in allen Staaten von dem obersten
Chef der Regierung, d. h. in den Monarchien von den Landesherren,
in den freien Städten von den Senaten, im Reich vom Kaiser ausge-
übt wird. Ebensowenig ist die Begnadigung materiell eine Ent-
scheidung eines Rechtsstreites; sie beruht nicht auf dem positiven
Recht, sondern kehrt sich gegen dasselbe; sie setzt nicht an die Stelle
eines Urteils ein anderes, durch welches der Begnadigte für schuldlos
oder minder schuldig erklärt wird, sondern sie steht der Schuld- und
Rechtsfrage völlig unabhängig gegenüber. Die Gründe, aus welchen
die Begnadigung erteilt wird, brauchen keine Rechtsgründe zu sein;
wird die Gnade gewährt, um Härten des positiven Rechts zu mildern
1) Dies behauptet noch u. a. Heinzea.a. O. Il, S. 633.
2) Vgl. Merkel, Strafrecht S. 247. — Unrichtig Binding S. 872, Note 9,
Ziff. 5.
3) Dahlmann, Politik $ 122, S. 98 sagt: „Die peinliche Gerichtsbarkeit kehrt
vermittelst des königlichen Rechts der Begnadigung von der Hand der Richter
schließlich in des Königs Hand zurück.“ Diese Phrase ist oft wiederholt worden.
Vgl. dagegen Binding S. 862; Elsaß S. 24 ff.