Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Vierter Band. (4)

8 128. Bedeutung und Feststellung des Haushaltsetatsgesetzes. 527 
auf welches er sich bezieht, begonnen hat oder noch nicht zum 
größten Teil abgelaufen ist, neue Ausgaben sich als notwendig erweisen 
oder daß neue Einnahmequellen eröffnet oder alte verschlossen werden, 
z. B. durch Veränderung der Steuergesetzgebung. In einem solchen 
Falle ist der Erlaß eines oder mehrerer Nachtragsetats durch den Wort- 
laut des Art. 69, daB alle Einnahmen und Ausgaben für jedes Jahr 
veranschlagt, und des Art. 71, daB die gemeinschaftlichen Ausgaben 
für ein Jahr bewilligt werden sollen, geboten, und die Zulässigkeit 
vonNachtragsetats ist durch die Praxis wiederholt anerkannt worden !). 
4. Der Art. 69 sagt: »Der Etat wird vor Beginn des Etats- 
jahres festgestellt.« Es entspricht dies der Natur des Etats als Vor- 
anschlags; die Aufstellung eines Voranschlag von Einnahmen 
und Ausgaben, die bereits tatsächlich erfolgt sind, ist eine contradictio 
in adjecto. Wenn man den Schwerpunkt der Bedeutung des Etats in 
die Genehmigung oder Bewilligung von Einnahmen oder Aus- 
gaben verlegt, dann ist seine nachträgliche Feststellung wenigstens 
logisch zulässig, wie ja nachträgliche Genehmigungen von außeretats- 
mäßigen Ausgaben auch tatsächlich nicht selten vorkommen; wenn 
man aber die wahre Natur des Etats in einem Wirtschaftsvoran- 
schlage erkennt, dann ist seine nachträgliche Aufstellung widersinnig‘). 
Die angegebenen Worte des Art 69 schreiben einen Termin vor, 
bis zu welchem der Etat spätestens festgestellt werden soll; da- 
gegen enthalten sie keine Vorschrift darüber, daß der Etat unmittel- 
bar vor Beginn des Etatsjahres festgestellt werden müsse, oder über 
die in dieser Hinsicht einzuhaltende Zeitgrenze. Der Natur der Sache 
nach verbietet sich nun allerdings die Aufstellung eines Voranschlags 
für eine noch ferne Wirtschaftsperiode, und die bisherige Praxis hat 
regelmäßig daran festgehalten, in jedem Jahre nur den Etat des 
nächstfolgenden Jahres festzustellen; dem Wortlaut der Reichs- 
verfassung widerspricht es aber nicht, wenn in einer Sitzungsperiode 
des Reichstages die Etats der beiden folgenden Jahre in zwei besonderen, 
je ein Etatsjahr betreffenden Gesetzen festgestellt werden >). 
1) Nachtragsetats sind in großer Zahl erlassen worden; fast in jedem Jahr ergab 
sich dazu Veranlassung und zwar nicht selten zum Erlaß mehrerer Nachtragsetats. 
2) Vgl. G. Seidler S. 120 fg. Jedoch erfolgen bisweilen sogen. Nachtrags- 
etats zur Berichtigung oder Aenderung des Hauptetats, welche sich aus tatsächlichen 
oder rechtlichen Gründen als notwendig erweist, z. B. eine anderweitige Feststellung‘ 
der Matrikularbeiträge. 
3) Dies ist in der Tat erfolgt in der Reichstagssession von 1882/83, in welcher 
die Etats für 1883/84 (Reichsgesetz vom 2. März 1883, Reichsgesetzbl. S. 5) und für 
1884/85 (Reichsgesetz vom 2. Juli 1883, Reichsgesetzbl. S. 125) festgestellt worden 
sind. In den Verhandlungen des Reichstages von 1882 (Stenogr. Bericht I, S. 659 ff.) 
ist dies von mehreren Rednern für verfassungswidrig erklärt worden, indem sie den 
Unterschied zwischen der gleichzeitigen Vorlegung von zwei Jahresetats und der 
Vorlegung eines Zweijahrsetats nicht würdigten. Daß man bei der Abfassung der 
Reichsverfassung an den Fall nicht gedacht hat, daß in einer Session dem Reichstage
	        
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