Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechtes Erstes Buch Das Deutsche Landesstaatsrecht (1)

2. Die Staatsgewalt. 25 
Monarchien gebührt ebenso, wie Republiken, die Souveränetät; sie 
bedeutet die Unabhängigkeit der Staatsgewalt von einer ausser ihr 
stehenden höhern Staatsgewalt und ist somit ein wesentlich nega- 
tiver Begriff, indem durch sie die Abwesenheit einer jeden staats- 
rechtlichen Unterordnung behauptet wird. Rein völker- 
rechtliche Beschränkungen heben den Begriff der Souveränetät 
nicht auf. Alle ceivilisirten Staaten erkennen, trotz ihrer Souveränetät. 
eine über ihnen stehende internationale Rechtsordnung an, welche 
ihnen im wechselseitigen Verkehre bestimmte Pflichten auferlegt 
und Rechte gewährt. Ja, durch völkerrechtliche Verträge können 
sich Staaten in weitgehender Weise beschränken, indem sie sich 
über eine nach gleichen Grundsätzen vorzunehmende Ausübung 
Ihrer Hoheitsrechte verständigen und sich dadurch oft in weitgehen- 
der Weise die Hände binden. Dies geschieht z. B. durch Alliance-. 
Zoll- und Handelsverträge, am meisten durch Eintritt in einen 
Staatenbund, welcher die Staaten in ihrer freien Bewegung sehr 
beschränken kann. So lange aber solche Beschränkungen nur in 
der völkerrechtlichen Sphäre verbleiben, heben sie die Souveränetät 
der Staaten nicht auf, weil sie nicht einem übergeordneten Willen 
einer civitas maxima, sondern lediglich ihrem eigenen, vertrags- 
mässig gebundenen Willen gehorchen. Die $ouveränetät hört erst 
mit dem Augenblick auf, wo eine Staatsgewalt staatsrechtlich einer 
höheren Staatsgewalt untergeordnet wird. Alsein reiner Rechtsbegriff 
hat die Souveränetät mit der politischen Machtstellung der Staa- 
ten nichts zu thun!. Politisch sind alle Staaten mehr oder we- 
niger abhängig von einander und besonders kleinere Staaten that- 
sächlich oft genug darauf angewiesen, sich dem Willen ihrer 
grössern Nachbarn in allen Beziehungen zu fügen. Dies thut aber 
F . £ 
I Wenn daher Gerber in seinen Grundzügen 2. Aufl. 8. 25 sagt: »)ie 
Souveränetät ist kein Begriff, der blos auf der Basis des Rechts beruht, er setzt 
zugleich, um zur vollen Wahrheit zu werden, eine entsprechende Macht voraus«, 
so entzieht er dadurch den Begriff der scharfen juristischen Bestimmung. 
Welche Staaten wären souverän, wenn man die Machtmittel, ihren Staats- 
willen im Völkerverkehre geltend zu machen, als Massstab der Souveränetät be- 
trachten wollte? Etwa nur die sechs Grossmächte, oder vielleicht auch noch 
Schweden und Spanien? Der Rechtswissenschaft kann es nur auf rechtliche 
Eigenschaften der Staaten ankommen, nicht auf die thatsächlichen Machtver- 
hältnisse. Juristisch ist das Fürstenthum Liechtenstein ebenso souverän, wie 
das Kaiserthum Russland. Die Souveränetät ist überall da vorhanden, wo keine 
staatsrechtliche Unterordnung eines Staates unter die Staatsgewalt eines andern 
Staates besteht. Auf die thatsächliche politische Abhängigkeit eines Staates 
vom andern kann die Rechtswissenschaft keine Rücksicht nehmen.
	        
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