Full text: Lehrpläne und Lehraufgaben für die höheren Schulen in Preußen von 1901.

76 Lehrplan des Gesangunterrichtes an den höheren Lehranstalten usw. 
Den ÜUbungen wird im ersten halben Jahre die C-Leiter zu- 
grunde gelegt; danach erst folgt die Unterscheidung von ganzen und 
halben Stufen, die Einführung in den Bau der Durleiter und die 
Entwicklung der anderen Tonleitern. 
Die Gesangstunden, auch die in Sexta, sind vor allem für 
das Singen bestimmt. Die theoretischen Belehrungen haben nur 
insofern Wert, als sie dem bewußten und selbständigen Singen zur 
Voraussetzung dienen; daher sollen diese Belehrungen keinen breiteren 
Raum einnehmen, als für den angegebenen Zweck erforderlich ist; 
auch sollen sie nur allmählich soweit dargeboten werden, als sie beim 
Singen Verwendung finden. 
3. Bei der Ausbildung der Stimme ist klare und dialektfreie 
Aussprache der einfachen Vokale und Diphthonge, richtige Bildung der 
Konsonanten, Hervorbringung eines reinen und gleichmäßigen Tones, 
uugezwungener Übergang aus der Bruststimme in die Kopfstimme und 
umgekehrt, durch fortlaufende Ubungen zu erstreben. Durchaus ist zu 
vermeiden, die Schüler über ihre tonische und dynamische Stimm- 
grenze hinauszuführen. In natürlicher Stimmlage leise zu singen, 
ist das beste Mittel, die Stimme und den Sinn für einen schönen 
Ton zu erziehen; Überanstrengung der Stimme hat leicht eine 
dauernde Schädigung der Stimmorgane zur Folge. 
4. Bei allen Gesangübungen sind die Schüler zum wohlüber- 
legten Atmen anzuhalten. Abgesehen davon, daß dies zur Erzielung 
eines richtigen Vortrags erforderlich ist, bildet das damit verbundene 
Tiefatmen eine fortlaufende Gymnastik der Lunge, die zur gesunden 
Entwicklung dieses wichtigen Organs beiträgt. Dabei ist für frische 
Luft im Gesangraum stets zu sorgen; auch achte der Lehrer darauf, 
daß die Schüler beim Singen eine ungezwungene Haltung einnehmen, 
und daß die Bewegungen der Brust= und Bauchmuskeln nicht durch 
unrichtige Haltung der Arme und des Kopfes oder durch zu enge 
Kleidungsstücke beeinträchtigt werden. 
5. Der Unterricht kann im allgemeinen nur Massenunterricht 
sein; jedoch muß in jeder Gesangstunde zwischen Einzelgesang und 
Klassengesang gewechselt werden. Dadurch werden die Stimmen vor 
Ermüdung geschützt, und der Lehrer kann dabei das Stimmvermögen 
der einzelnen Schüler erkennen und fördernd darauf einwirken. Zu- 
gleich wird der Schüler sich seines Könnens bewußt und gewinnt 
Freudigkelt und Mut, selbständig zu singen. 
6. Die Hauptaufgabe des Gesangunterrichtes liegt im ange- 
wendeten Gesange, mit dem sogleich zu beginnen ist, nachdem die ersten 
Gehör-, Treff-, Zähl= und Tonbildungsübungen erfolgt sind. In den 
beiden unteren Klassen bestimmen die einzuübenden Lieder das ganze 
Schuljahr hindurch den Gang der theoretischen Belehrungen und der
	        
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