8 10. Erwerb und Verlust von Staatsgebiet. 93
vom 9. Februar 1869). Beispiele für das letztere: Abtretung der
Karolinen, der Palauinseln und der Marianen von Spanien an das
Deutsche Reich durch Vertrag vom 30. Juni 1899.
2. Der Erwerb kann ein selbständiger (originärer) oder abge-
leiteter (derivativer) sein.
Nur im letzteren Fall ist der erwerbende Staat in einem ge-
wissen Umfange Rechtsnachfolger des abtretenden, übernimmt mithin,
soweit nichts anderes bestimmt ist, die auf dem abgetretenen Gebiet
ruhenden Rechte und Pflichten (unten $ 23 II). Als selbständige
Evrwerbsarten sind besonders zu nennen die Eroberung (debellatio)
und die Okkupation. Von der Okkupation wird unten III noch
näher gesprochen werden. Die Eroberung als originäre Erwerbs-
art setzt voraus, daß die Staatsgewalt in dem eroberten Gebiete
vollständig vernichtet ist. Darin liegt ihr wichtiger Unterschied
von der kriegerischen Besetzung (unten & 40 VI). Diese löst das
Band nicht, das die Angehörigen des Gebietes an die bisherige
Staatsgewalt knüpfte; die Eroberung dagegen macht sie zu An-
gehörigen des erobernden Staates und unterwirft sie in allen
Beziehungen der neuen Staatsgewalt.e Die Erklärung, daß ein
bestimmtes Gebiet als erobert betrachtet werden solle (die Annexion),
ist daher völkerrechtswidrig und rechtsunwirksam, so lange die
bisherige Staatsgewalt auf diesem Gebiete noch militärischen Wider-
stand zu leisten in der Lage ist. Die von England im Juli 1900
erklärte Annexion der Burenfreistaaten entbehrte daher jeder. völker-
rechtlichen Bedeutung und würde England niemals berechtigt haben,
die weiterkämpfenden Buren als Rebellen zu behandeln.
8. Erwerb und Abtretung von Staatsgebiet kann nur durch den
erklärten Willen der Staatsgewalt erfolgen.
Die Staatsgewalt kann ihre Organe, z. B. die Führer von
Kriegsschiffen oder die Leiter von Forschungsunternehmungen,
beauftragen, im Namen des Staates den Erwerbsakt zu voll-
ziehen; sie kann aber auch den von den genannten Personen
2) Abgedruckt bei Zorn, Kolonialgesetzgebung. 1901. 8. 53.