810. Erwerb und Verlust von Staatsgebiet. 97
in dem der Wechsel der Staatsgewalt sich vollzieht. Die Treupflicht
des Untertanenverbandes trifft alle diejenigen nicht, die im Augen-
blicke des Überganges die Zugehörigkeit bereits aufgegeben hatten.
Der aufgestellte Rechtssatz gilt in gleicher Weise bei ursprüng-
lichem wie bei abgeleitetem Erwerb.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß dieser gegen den Willen
der einzelnen sich vollziehende Wechsel der Staatsangehörigkeit,
dieser Übergang in eine fremde, vielleicht bis dahin feindliche
Staatsgewalt mit großen Härten verknüpft sein kann. Die neuere
Staatenpraxis hat sich daher bemüht, der freien WillensentschlieBung
des einzelnen einen gewissen Einfluß einzuräumen. Zwei Rechts-
gedanken, die dem 19. Jahrhundert ihre Entwicklung verdanken,
sind der Ausdruck dieses Bestrebens: das Plebiszit einerseits, die
Option andererseits.
1. Der Erwerb des Gebietes ist nicht bedingt durch die Zu-
stimmung seiner Bewohner (Piebiszit).
Das Plebiszit, ein Lieblingsgedanke Napoleons IH. und
Cavours, wurde, in bezug auf europäisches Gebiet, angewandt
1860 bei der Abtretung von Savoyen und Nizza an Frankreich auf
Grund des Turiner Vertrags vom 24. März 1860, bei den neuen Er-
oberungen Italiens von 1860 bis 1870 (2. Oktober 1870 in Rom);
1863 bei der Einverleibung der Ionischen Inseln in Griechenland.
Durch Art. 5 des Prager Friedens vom 23. August 1866 übertrug
Österreich auf Frankreichs Wunsch seine Rechte an Schleswig-
Holstein an Preußen mit der Maßgabe, daß die „Bevölkerung der
nördlichen Distrikte Schleswigs, wenn sie durch freie Abstimmung
den Wunsch zu erkennen gäbe, mit Dänemark vereinigt zu werden,
an Dänemark abgetreten werden sollte“. Diese Vereinbarung, aus
der nur Österreich, keine dritte Macht, ein Recht ableiten konnte,
wurde durch Vertrag zwischen Österreich und Preußen vom 11. Ok-
tober 1878 aufgehoben. ?
7) Abgedruckt N.R.G. 2.s. III 529. — Über die Abtretung von
Savoyen vergl. Grivaz, R.G. III 445 und Burgeois, R.G. II 673.
v. Liszt, Völkerrecht, 4. Aufl. 7