98 1.Buch. Die Rechtssubjekte und ihre allgem. Rechtsstellung.
Der Gedanke, daß das Plebiszit der Bewohner Bedingung
für die Rechtswirksamkeit der Erwerbung des Gebietes sei, ist be-
sonders von den französischen Schriftstellern bis in unsere Tage
festgehalten worden. Die herrschende Ansicht innerhalb der völker-
rechtlichen Literatur steht auf dem entgegengesetzten Standpunkt.
Und gewiß mit vollem Recht. Entscheidend für die Verwerfung
dieser Forderung ist in erster Linie nicht die Tatsache, daß jede
gewandte Regierung es in ihrer Hand hat, das ihr wünschenswerte
Ergebnis der Volksabstimmung herbeizuführen, daß also in den
meisten Fällen das Plebiszit nicht der einwandfreie Ausdruck des
unbeeinflußten Volkswillens sein wird; entscheidend ist vielmehr
eine andere naheliegende Erwägung. Die Plebiszittheorie muß,
folgerichtig durchgeführt, den Willen eines Bruchteils der Staats-
bevölkerung über den Staatswillen stellen und damit zur Anarchie
führen. Nehmen wir an, daß der im Kriege niedergeworfene
Staat bereit ist, dem Verlangen des Siegers nachzugeben und den
Frieden durch Hingabe eines Stückes seines Gebiets zu erkaufen:
die Bewohner dieses abzutretenden, vielleicht kleinen und dünn
bevölkerten Gebiets hätten es nach der Plebiszittheorie in ihrer
Hand, den Friedensschluß unmöglich zu machen und so die völlige
Vernichtung des Staates herbeizuführen, dem sie angehören. Neben
dem Willen der Staatsgewalt würde ein anderer gleichberechtigter
Wille anerkannt, der alle Entschließungen der Staatsgewalt zu
hemmen die Kraft hätte. Gerade im Interesse der Völkerfreiheit
muß daher die Plebiszittheorie verworfen werden. Auf diesem
Wege kann also die Vermeidung der Härten nicht gefunden
werden, die mit dem Wechsel der Staatsangehörigkeit verbunden
Sein können.
2. Nicht kraft allgemeiner völkerreehtlieher Rechtsregel, wohl
aber durch eine, im 19. Jahrhundert häufige, besondere Vereinbarung
der beteiligten Staaten (sogenannte Optionsklausel) wird den Ange-
hörigen des erworbenen Gebietsteils gestattet, binnen bestimmter Frist
bei der zuständigen Behörde zu erklären, daß sie ihre Zugehörigkeit
zu ihrer bisherigen Staatsgewalt bewahren wollen, die sie durch die