Full text: Das Völkerrecht.

8 Einleitung. 
festgestellt werden kann. Aber unsicheres Gewohnheitsrecht findet 
sich auch auf anderen Gebieten; diese Unsicherheit hat der An- 
wendung des gemeinen Rechts die größten Schwierigkeiten ver- 
ursacht, ohne daß es doch jemand in den Sinn gekommen wäre, 
die Rechtsnatur des gemeinen Rechts zu bestreiten. Und dann 
hat ja gerade das 19. Jahrhundert uns in reicher Fülle die schrift- 
liche Festlegung völkerrechtlicher Normen gebracht, so daß heute 
bereits die Mehrzahl der völkerrechtlichen Regeln dem geschriebenen 
Recht angehört. 
Auch die Tatsache, daß nur zu oft und auch in unseren 
Tagen die Sätze des Völkerrechts mit Füßen getreten worden sind, 
vermag die Rechtsnatur des Völkerrechts nicht in Frage zu stellen. 
Denn auch die staatlichen Rechtsnormen bleiben oft genug toter 
Buchstabe, über den der Mächtige oder der Kluge ohne Nachteil 
sich hinwegzusetzen gewohnt ist. Diesen Verletzungen des Völker- 
rechts stehen andere wichtige Tatsachen gegenüber. Bei zahlreichen 
Gelegenheiten haben die Staaten die verpflichtende Kraft des „Völker- 
rechts“ ausdrücklich und feierlich anerkannt; bei allen Streitigkeiten 
zwischen den Mächten, selbst während des Krieges, berufen sich 
diese auf das „Völkerrecht“; neu entstehende Staaten verpflichten 
sich selbst und werden verpflichtet, die Sätze des „Völkerrechts“ 
zu beachten; die Konsuln erhalten durch Staatenverträge die Be- 
fugnis, Verletzungen des „Völkerrechts“ durch den Empfangsstaat 
zu rügen; den Schiedsrichtern wird aufgetragen, „nach Völkerrecht“ 
die Entscheidung zu fällen; die nationalen Gesetze enthalten (so 
in den „Delikten gegen das Völkerrecht‘) seine Anerkennung, und 
die nationalen Gerichte (insbesondere die Prisengerichte) bringen 
es zur Anwendung; nach englisch-amerikanischer Auffassung bildet 
das „Völkerrecht“ sogar einen integrierenden Bestandteil des natio- 
nalen Rechtes. 
Die Schwierigkeit liegt tiefer. Sie liegt in der genossen- 
schaftlichen Natur der Völkerrechtsgemeinschaft selbst. Geht man 
davon aus, daß nur im Staate Recht begrifflich möglich ist, daß 
der Rechtssatz nur von einer übergeordneten Herrschermacht ge-
	        
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