87. Die Staatsgewalt in ihrer äußeren Unabhängigkeit. 65
und werden wir uns nicht einmengen. Aber in bezug auf die
Staaten, die ihre Unabhängigkeit erklärt und aufrecht erhalten und
deren Unabhängigkeit wir nach reiflicher Überlegung und nach ge-
rechten Grundsätzen anerkannt haben, könnten wir irgend eine Ein-
mischung einer europäischen Macht zu dem Zweck, sie zu unter-
drücken oder in irgend einer andern Weise ihr Geschick zu beein-
flussen, in keinem andern Lichte betrachten, als den Ausdruck
einer unfreundlichen Gesinnung gegen die Vereinigten. Staaten.“
Diese kräftige Betonung des Nichtinterventionsprinzipes steht
im. vollen Einklang mit der seither zur allgemeinen Herrschaft
gelangten völkerrechtlichen Anschauung.
Wenn dagegen ‚später die Vereinigten Staaten den Satz auf-
stellten, daß jeder Erwerb amerikanischen Gebietes durch eine
europäische Macht künftighin ausgeschlossen sein solle, mag dieser
Erwerb ein ursprünglicher (durch Eroberung oder Okkupation),
mag er ein abgeleiteter (durch Vertrag) sein, so greifen sie damit
weit hinaus über die Rechtssätze des Völkerrechts, das solchen
Erwerb in gleicher Weise auf allen Teilen der Erde zuläßt. Dieser
seither oft (auch während der venezolanischen Wirren 1902/3)
wiederholte Satz würde erst durch die Anerkennung von seiten der
übrigen Staaten zur Rechtsnorm des Völkerrechts werden; diese
Anerkennung ist bisher nicht erfolgt.
‘Schon in der Botschaft ist aber auch die Forderung angedeutet,
die dann später die Vereinigten Staaten mit steigender Bestimmt-
heit, aber unter dem Widerspruch Europas wie auch teilweise der
übrigen amerikanischen Staaten selbst aufgestellt haben, daß näm-
lich den Vereinigten Staaten eine Vorherrschaft auch über die süd-
und mittelamerikanischen Staaten, insonderheit in ihren Streitigkeiten
mit europäischen Mächten, zukomme („Amerika‘“ nicht den Ameri-
kanern, sondern „den Vereinigten Staaten‘);? eine Forderung, die
7) Im Venezuela-Streit 1902/3 haben die Vereinigten Staaten an-
erkannt, daß die europäischen Mächte das Recht haben, die zentral- und
südamerikanischen Staaten, wenn nötig, durch Gewalt zur Erfüllung ihrer
Verpflichtungen anzuhalten.
v. Liszt, Völkerrecht. 4. Aufl. 5