Full text: Das Völkerrecht systematisch dargestellt.

2 Einleitung. 
1. Die Völkerrechtsgemeinscheaft (la famille des nations) ist ein dauernder 
und allgemeiner Zweckverband der Staaten. Sie wird umgrenzt durch die ge- 
meinsame Rechtsüberzeugung, die auf der Gemeinsamkeit der Interessen und 
der Kultur beruht. Sie kennzeichnet sich durch den ständigen und umfassenden 
Verkehr auf dem Fuße der Gleichberechtigung. 
Die durch das Völkerrecht umschlossene Staatengemeinschaft ist 
zunächst (und das ist das materielle Moment) eine Interessen- 
gemeinschaft. Der steigende Austausch materieller und geisliger 
Güter zwischen den Staaten weist jeden von ihnen auf jeden andern 
hin, läßt ihn seine tatsächliche Abhängigkeit von allen andern (seine 
„interdependance“) erkennen und zwingt ihn zur Verständigung mit 
allen übrigen, um in Gemeinschaft mit ihnen die eigenen Interessen 
zu sichern und zu fördern. So entsteht und entwickelt sich die Erkennt- 
nis, daB es Lebensinteressen, Güter der Menschen gibt, deren Träger 
nicht der einzelne Staat, sondern eine Gesamtheit von Staaten ist. 
Die Staatengemeinschaft ist f.--er auch (und das ist das ideelle 
Moment) eine Kulturgemeinschaft. Sie beruht als solche in 
letzter Linie auf der Gemeinsamkeit der religiös-ethischen Überzeu- 
gungen, die durch das christliche Bekenntnis nicht ohne weiteres ge- 
geben und an dieses nicht unbedingt gebunden ist. Sie setzt aber weiter 
die Gemeinsamkeit der rechtlich-politischen Anschauungen und Ein- 
richtungen voraus: insbesondere, daß die Grenzlinie zwischen der 
Macht der Staatsgewalt und der Freiheit des einzelnen in Gesetzgebung, 
Rechtspflege und Verwaltung gegen willkürliche Verrückung, sei es 
durch den Herrscher, sei es durch die Beherrschten, gesichert sei. 
Auf dieser Gemeinschaft der Interessen und der Kultur baut sich 
die Rechtsgemeinschaft auf; sie wurzelt in der Überzeugung, 
daß die Beziehungen der Staaten untereinander durch verbindliche Nor- 
men geregelt werden. Diese Normen bilden das Völkerrecht. 
Durch die Selbstbindung des Staatenwillens entstanden, bedeuten 
diese Normen zunächst die gegenseitige, auf dem Prinzip der Gleich- 
berechtigung ruhende Anerkennung des von ihnen umschriebenen 
Machtkreises jedes einzelnen Rechtsgenossen. Sie ermöglichen und 
fordern zugleich den Verkehr der zur Gemeinschaft gehörenden 
Staaten untereinander (das völkerrechtliche commercium), der sich in 
der ständigen Unterhaltung diplomatischer Beziehungen, in dem Ab- 
schluß von Verträgen, vor allem aber in der Erschließung des Jandes 
und dem Austausch der materiellen wie der geistigen Güter äußert. 
Neben dem durch die Völkerrechtsgemeinschaft gegebenen allge- 
meinen Zweckverbande ist seit der Mitte des 19. Jahrhunderls cine 
ganze Reihe von besonderen Zweckverbänden entstanden, die 
eine kleinere oder größere Zahl von Staaten umfassen und teilweise
	        
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