8 25. Das völkerrechtliche Delikt. 177
8. Das völkerrechtliche Delikt Ist stets Verletzung eines Staates.
Und zwar nur eines souveränen Staates. Eine Verletzung Ma-
rokkos ist rechtlich als eine Verletzung Frankreichs aufzufassen. Doch
kann der Staat nicht nur unmittelbar (so in seinen Vertretern und in
seinen Hoheitszeichen), sondern auch, in seinen Staatsangehörigen und
Schutzgenossen, mittelbar verletzt werden.
4. Jede Verletzung eines völkerrechtlich geschützten Interesses ist Dellkt.
Es gibt daher keine besonderen deliktischen Tatbestände; die
feine Differenzierung, die das nationale Strafrecht und seine Unrechts-
lehre beherrscht, ist dem Völkerrecht (wie dem nationalen Privatrecht)
fremd. Selbst die Unterscheidung des strafbaren und des nichtstraf-
baren Unrechts kennt es nicht. Daher ist, im Gegensatz zum natio-
nalen Privatrecht, auch die einfache Vertragswidrigkeit Delikt, soweit
es sich (oben $ 22I) wirklich um völkerrechtliche Verträge handelt
Jede Verletzung bestehender Staatsverträge kann mithin die sämt-
lichen Unrechtsfolgen nachsichziehen. Doch ist der Staat, wenn sein
Vertragsgegner auch nur in einem einzigen Punkte den geschlossenen
Vertrag verletzt, berechtigt, von dem ganzen Vertrage zurückzutreten
(oben $ 22 V 2). Damit entfallen dann die eigentlichen Unrechtsfolgen.
b. Verschieden von dem völkerrechtlichen Delikt ist der „unfreundliehe
Akt‘‘ (acte peu amical). |
Ein solcher Akt, vor allem die nichtautoritative Einmischung
in die Angelegenheiten eines fremden Staatswesens, kann, soweit nicht
die Haager Abkommen im Wege stehen, mit Entschiedenheit zurückge-
wiesen werden, erzeugt aber nicht die Unrechtsfolgen.
1I. Der Staat ist unmittelbares Deliktssubjekt bei allen schuldhaften rechts-
widrigen Handlungen, die von seinen mit völkerrechtlicher Vertretungsbelugnis
ausgerüsteten Vertretungsorganen innerhalb ihrer Vertretungsbefugnis be-
gangen werden.
Der Staat haftet daher für die Handlungen seines Staatshauptes
und seines Ministers des Äußeren, seiner Gesandten und seiner Kon-
suln, sowie auch für die im Kriege vorgenommenen Handlungen sei-
ner Befehlshaber. Und er haftet für diese Handlungen, mögen sie im
Inland oder im Ausland vorgenommen sein. Denn diese Handlungen
der mit Vertretungsbefugnis ausgestatteten Organe sind Handlungen
des Staates selbst, mag rechtsgeschäftliche, mag deliktische Handlung
in Frage stehen. Jedoch müssen, damit zu ungunsten des Staates die
Deliktsfolgen eintreten, schuldhafte, d. h. vorsätzliche oder fahrlässige
Handlungen seiner Vertretungsorgane vorliegen. Die reine Erfolgs-
haftung ist dem Völkerrecht fremd.
Die Entwicklung des Völkerrechts hat aber über diesen Satz
bereits hinausgeführt. Durch Art.3 des 4. Abkommens von 1907 ist
v. Liszt, Völkerrecht. 11. Aufl. 12