6 Einleitung.
Il. Die Rechtsnatur des Völkerrechts°).
1. Die Völkerrechtsgemeinschaft ruht auf dem genossenschaftlichen,
nicht auf dem herrschaftlichen Prinzip; sie Ist kein Staatenstaat, sondern ein
Staatenverein, ein Zweckverband selbstherrlicher Staaten.
Der Staat setzt begrifflich eine über dem einzelnen stehende Ge-
walt voraus; einen Herrscherwillen, der etwas anderes ist als die
Summe der Einzelwillen, eine Herrschermacht, die den einzelnen erfaßt
und ihn, auch gegen seinen Willen, festhält. Auch der Staatenstaat
ist nicht denkbar ohne eine über den einzelnen Gliedstaaten stehende
und sie erfassende Zentralgewalt. Die Völkerrechtsgemeinschaft aber
wird gebildet durch unabhängige Staaten, die die Anerkennung eines
über ihnen stehenden Herrscherwillens weit von sich ablehnen. In der
Völkerrechtsgemeinschaft ist der Wille der Gesamtheit, mag er auf
Staatenkongressen ausdrücklich festgestellt werden, mag er nur aus
der Staatenübung erkennbar sein, nichts anderes als der Wille der
sämtlichen einzelnen. Den schärfsten Ausdruck findet dieser grund-
legende Satz in der Tatsache, daß völkerrechtliche Vereinbarungen
nur diejenigen Staaten binden, die sich binden wollen, daß, rechtlich
betrachtet, die Stimme des kleinsten Staates genau so schwer ins Ge-
wicht fällt, wie die seines übermächtigen Nachbarn, daß jede Majori-
sierung der Minderheit grundsätzlich ausgeschlossen ist.
2. Die verbindende Kraft schöpfen die völkerrechtlichen Normen mithin
aus dem sich selbst bindenden Willen der Staaten, nicht aus dem Willen einer
diesen übergeordneten Macht. Das Völkerrecht Ist Vertrag, nicht Gesetz;
aber gerade als Vertrag positives Recht. . |
Wenn heute noch vereinzelte Theoretiker (so A. Lasson, die beiden
Zorn, E. I. Bekker) die Rechtsnatur des Völkerrechtes bestreiten, so
beruht diese Ansicht auf einer unrichtigen, weil einseitigen Auffassung
des Rechtsbegriffes.
Geht man davon aus, daß der Rechtssatz nur von einer über-
geordneten Herrschergewalt geschaffen werden kann, dann freilich
ist Recht nur im Staate möglich und Völkerrecht ein logischer Wider-
spruch. Aber wie die Geschichte des nationalen Rechts uns Ichrt, kann
5) Ullmann 17 mit Literatur. Jellinek, System der subjektiven öffent-
lichen Rechte. 2. Aufl. 1905. S. 310. Niemeyer N.Z.XX1. Bekker, D.J.Z.
XVII 17. Cavaglieri, R.G. XVIII 259. Baty, International. law. 1909.
Higgins, The binding force of international law. 1910. v. Liszt, Das Wesen
des völkerrechtlichen Staatenverbandes und der internationale Prisenhof. (Fest-
gabe für v. Gierke). 1910. Huber, Jahrbuch des öffentlichen Rechts IV (1910) 56.
Lucas, Stastsrechtlicher und völkerrechtlicher Zwang (Festgabe für Güterbock)
1910. Grosch, Der Zwang im Völkerrecht. 1912. Verdroß (Anhänger von
Kelsen) K.Z. VIII329. Heilborn, bei Stier-Somlo I1lS.16. — Die Frage ist
während des Weltkrieges oft erörtert worden. Die beste Zusammenfassung bietet
Zitelmann, Der Krieg und das Völkerrecht. 2. Aufl. 1916.