8 26. Die Hoochseeschiffahrt und die Freiheit des Meeres, 189
IV. Besondere Rechtsregeln gelten für den Seeraub (die Piraterie).?)
Der staatlich autorisierte Seeraub der nordafrikanischen Barba-
reskenstaaten Marokko, Algier, Tunis und Tripolis ist durch Frank-
reichs entschiedenes Vorgehen (um das Jahr 1830) im Mittelmeer ver-
schwunden; der private Seeraub spielt im Roten Meer wie besonders
in den chinesischen Gewässern auch heute noch eine Rolle.
1. Seeraub Ist die auf offener See von der Mannschaft eines Privatschiffs
hegangene rechtswidrige Gewalttat gegen Personen oder Sachen.!®)
Der Begriff des Seeraubes setzt mithin voraus, daß die Gewalt-
tat auf offener See begangen wird; Seeraub kann weder auf dem Lande
noch in den Küstengewässern begangen werden. Seeräuberschiff kann
nur ein Privatschiff, niemals ein Staatsschiff oder ein mit staatlicher
Genehmigung, also etwa mit staatlichen Kaperbriefen ausgestattetes
Schiff sein, selbst wenn die Erteilung des Kaperbriefes eine Verletzung
der Pariser Seerechtsdeklaration von 1856 (unten $411I) in sich
schließen würde. Wohl aber sind Seeräuberschiffe Kriegsschiffe, deren
Besatzung gemeutert hat (Verhalten Englands und Deutschlands gegen
. Kriegsschiffe der spanischen Aufständischen 1873); ebenso die von einer
aufständischen Partei, so lange sie noch nicht als kriegführende Macht
anerkannt ist, ausgerüsteten Kaperschiffe, sobald sie einen Gewaltakt
begehen (Verhalten Lincolns gegen die Kaperschiffe der Südstaaten
1861). Über bewaffnete Handelsschiffe vgl. unten 841 II. Ob das
Schiff unter der Flagge eines zur Völkerrechtsgemeinschaft gehörenden
Staates fährt, oder ob es gar keine oder eine völkerrechtlich nicht .an-
erkannte Flagge führt, ist gleichgültig.
Der völkerrechtliche Begriff des Seeraubes deckt sich nicht mit
dem strafrechtlichen Begriffe des Raubes auf offener See. Er ist wesent-
lich weiter als dieser. Jede Gewalttat auf offener See ist Seeraub im
Sinne des Völkerrechts. Also auch die Tötung oder Verwundung von
Menschen, selbst wenn dabei keine Wegnahme fremden Eigentums
erfolgt; auch die Beschädigung oder Zerstörung von fremdem Eigen-
9) Vgl. Niemeyer, Seekriegsrecht I 77. Stiel, Der Tatbestand der Piraterie
nach geltendem Völkerrecht usw. 1905 (hier S. 4 Note 3 über die sehr zweifelhafte
Etymolugie des Wortes). Schlikker, Die völkerrechtliche Lehre von der Piraterie
usw. Erlanger Diss. 1907. Dazu A. Zorn, L. A. XX1272. — v. Martitz 444.
Mörignhao Il 506. Nys1I 184. Oppenheim I 340. Perels 108. Ullmann 331.
10) Der Begriff des Seeraubes istr überaus bestritten. v. Martitz und Stiel
verlangen ein gewerbsmäßig auf räuberische Gewalttaten, u. z. grundsätzlich
gegen alle Nationen, gerichtetes Unternehmen. Für den weiteren Begriff Oppen-
heim I 340 (unter Berufung auf Hall und Lawrence), Niemeyer, A. Zorn
283, Schlikker 38. Für den Text spricht auch Art. 3 des deutsch-nieder-
ländischen Auslieferungsvertrages (für die Kolonien) vom 21. September 1897
(„Gewalttätigkeiten gegen Personen oder Sachen“), — Die nationalen Straf-
bestimmungen sind zusammengestellt bei Niemeyer 81 Note 2.