$ 1. Begriff und Einteilung des Völkerrechte. 7
das Recht auch von gleichstehenden Genossen vereinbart werden;
und diese vereinbarte allgemeine Regelung künftigen Verhaltens ist
Recht, wenn der .Rechtsgenosse nicht willkürlich von
ihr sich lossagen kann.
Gegen die Rechtsnatur des Völkerrechts kann also die Unvoll-
kommenheit seiner Erscheinungsform nicht ins Feld geführt werden.
Es muß zugegeben werden, daß ein Teil der völkerrechtlichen Normen
uns noch immer in der zweifellos unvollkommenen Form eines teil-
weise unsicheren Gewohnheitsrechts entgegentritt; aber unsicheres Ge-
wohnheitsrecht findet sich auch auf anderen Gebieten, und diese Un-
sicherheit hat der Anwendung des gemeinen Rechts die größten Schwie-
rıgkeiten verursacht, ohne daß es jemand in den Sinn gekommen wäre,
die Rechtsnatur des gemeinen Rechts zu bestreifen. Und dann haben
ja gerada die letzten fünf Jahrzehnte. uns in reicher Fülle die
schriftliche Festlegung völkerrechtlicher Normen gebracht, so daß heute
bereits die überwiegende Mehrzahl der völkerrechtlichen Regeln dem
geschriebenen Recht angehört.
Auch die Tatsache, daß nur zu oft und gerade auch während des
Weltkrieges die Sätze des Völkerrechts mit Füßen getreten worden
sind (vgl. unten $ 44), vermag die Rechtsnatur des Völkerrechts nicht
in Frage zu stellen. Denn auch die staatlichen Rechtsnormen bleiben
oft genug toter Buchstabe, über den der Mächtige oder der Kluge ohne
Nachteil sich hinwegzusetzen vermag. Diesen Verletzungen des Völker-
rechts stehen andere wichtige Tatsachen gegenüber. Vor allem die
Tatsache jüngster Vergangenheit, daß jeder Kriegführende seinen Geg-
nern zahlreiche und schwere Verletzungen des Völkerrechts vorge-
worfen und die gegen ihn gerichteten gleichartigen Vorwürfe mit flam-
mender Entrüstung zurückgewiesen hat: Vorwürfe wie Abwehr wären
sinnlos ohne die alle Staaten durchdringende Überzeugung, daß cs
auch im Kriege ein die Staaten verpflichtendes Recht gibt.
"Das Wesen des Rechtssatzes liegt in einem Doppelten. Einmal
in dem Kennzeichen, das er mit allen andern Normen teilt: in seiner
verpflichtenden Kraft. Es wird nicht geleugnet werden können, daß
die Sätze des Völkerrechts dieses Kennzeichen aufweisen, daß sie als
verpflichtend gemeint sind von denen, die sie aufstellen, und daß
sie als verpflichtend anerkannt und empfunden werden von denen,
an die sie sich richten. Dann aber liegt das Wesen des Rechtssatzes
in einem Merkmal, durch das er von den übrigen Normen, denen der
Religion, der Sittlichkeit usw. sich unterscheidet: daß der Verpflich-
tete sich nicht willkürlich von der übernommenen Verpflichtung frei-
machen kann, daß die Norm ihn auch gegen seinen Willen bindet.
Und so liegt die Sache hier allerdings. Das Verbleiben in dem
Staatenverein der Völkerrechtsgemeinschaft steht nicht im freien