Full text: Das Völkerrecht systematisch dargestellt.

274 IV. Buch. Die Erledigung der Staatenstreitigkeiten. 
fährdeten oder verletzten Einzelstaat bestehen. In beiden Fällen darf sie 
die Interessen dritter Staaten nicht verletzen. Hierher gehören: die 
Besetzung des Staatsgebietes, Flottenkundgebungen, Beschlagnahme 
von Staatsschiffen, die Beschießung oder Zerstörung von Plätzen usw. 
Beispiele bieten: die Besetzung Kretas durch die Großmächte im 
Jahr>2 1897; das Vorgehen des Deutschen Reiches, Großbritanniens 
und Italiens gegen Venezuela im Jahre 1902 (oben 8 25 V 4), das 
aber schließlich den Kriegszustand herbeiführte; die Flottenkund- 
gebungen Frankreichs vor Mytilene 1901, der Großmächte (ohne das 
Deutsche Reich) vor Mytilene und Lemnos (wegen der mazedonischen 
Frage) 1905 14). 
Gegen die süd- und mittelamerikanischen Staaten haben die Mächte 
vielfach Gewalt angewendet, wenn diese Staaten ihren, den Ange- 
hörigen fremder Staaten gegenüber übernommenen, finanziellen Ver- 
pflichtungen nachzukommen sich weigerten (vgl. oben $ 11 Note 7). 
Gegen diese Praxis hat sich, wie schon 1868 der Völkerrechtslehrer 
Calvo, später der argentinische Minister des Auswärtigen, Drago, 
in einer an seinen Gesandten in Washington gerichteten Note vom 
29. Dezember 1902 (Strupp II 106) ausdrücklich verwahrt, indem er 
den Ausschluß der Gewalt als einen völkerrechtlichen Grundsatz be- 
hauptete („Drago-Doktrin‘). Die Haager Konferenz von 1907 hat sich 
mit der Frage befaßt, und sie in dem zweiten Abkommen (,„Die Drago- 
Porter Konvention‘) zu lösen versucht. Hier wird die Anwendung von 
Gewalt bei Eintreibung von Vertragsschulden eines Staates 
davon abhängig gemacht, daß der Schuldnerstaat das Anerbieten schieds- 
richterlicher Erledigung ablehnt oder unbeantwortet läßt oder den Ab- 
schluß des Schiedsvertrages vereitelt oder dem Schiedsspruche nicht 
nachkommt. Auf Staatsanleihen bezieht sich das Abkommen nicht). 
4. Ein Fall der Intervention ist die Friedensblockade (le blocus pacifique).1®) 
Sie ist als besondere seerechtliche Gewaltmaßregel gegen den ver- 
letzenden Staat selbst seit den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts 
14) Vgl. Moncharville, R. G. IX 677. Boisdevant, R. G. XI 362. Rou- 
gier, R. G. XII1178. Schoenborn, Die Besetzung von Veracruz. 1914. Stau- 
dacher (unten Note 16). 
15) Drago, Cobro coercitivo de deudas publicasa. 1906. Derselbe, R.G. 
XIV 251. Moulin, R.G. XIV 417. Derselbe, La dootrine de Drago. 1908. 
Vivot, La doctrina Drago. 1911. Pohl, Zeitechrift für Politik 1V 134. Derselbe, 
Aus Völkerrecht und Politik. 1913. S.156. Spielhagen, Die Dragodoktrin 
(Greifswalder Diss. 1915) in N. Z. XXV 509. — Le doctrina Drago (Sammlung von 
Dokumenten mit Vorbemerkung von Triana und Einführung von Stead). 1908. 
BustamenteI44. — Gegen den letzten Satz des Textes Lammasch (oben Note 5) 
3.85, Spielhagen 9. 552. 
.. 16) Faloke, Die Hauptperiode der sogenannten Friedensblockaden (1827 bis 
1850). 1891: Derselbe, N. Z. XIX 63. Söderquist, Le Blocus maritime. 1908.
	        
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