$ 44. Der Weltkrieg und das Völkerrecht. 361
weitesten Kreisen tief erschüttert ist. Aber jene Tatsache ist begreiflich
in einem Krieg, der bis auf wenige und kleine Bruchteile die ganze
bewohnte Erde ergriffen und viele Millionen von Menschen aller Art
unter die Waffen gerufen hat. Wenn Christentum uad Menschenliebe,
Gesittung und Vertragstreue in ihren Grundfesten erschüttert werden,
ist es kein Wunder, wenn auch die Quadermauern des Rechts ins
Wanken geraten. Und dieser Erschütterung des Vertrauens in die
Lebenskraft des Völkerrechts steht die tiefgewurzelte Überzeugung der
kriegführenden Mächte selbst gegenüber, die seit den ersten Tagen
des Krieges in den gegen die Gegner gerichteten Anklagen und in
der Verteidigung gegen Vorwürfe, die diese gegen sie erheben, ganz
ebenso wie in den Auseinandersetzungen mit den neutralen Staaten
die Heiligkeit der zwischenstaatlichen Rechtsordnung anzurufen nicht
müde werden.
Zwei Umstände berechtigen uns, die Zahl der unzweifelhaft be-
gangenen Verletzungen des Völkerrechts ganz wesentlich herabzusetzen:
einmal die Unsicherheit der behaupteten Tatsachen; dann aber die
Unsicherheit der völkerrechtlichen Vorschriften.
1. Ein großer Teil der behaupteten Verletzungen des Völkerrechts ist über-
haupt nicht oder nicht nachweisbar begangen.?)
Noch ist der Zeitpunkt nicht gekommen, um die von beiden Seiten
aufgestellten Behauptungen auf ihre Richtigkeit hin zu prüfen. Aber
soviel kann heute bereits mit Bestimmtheit gesagt werden, daß viele dieser
Behauptungen, besonders über begangene verstümmelnde ‚„Greuel“, auf
aufgeregte Einbildungskraft, unrichtige Beobachtung, übertreibende Ge-
rüchte (crescit fama eundo), aber auch auf das bewußte Streben, den
Schücking, Die völkerrechtliche Lehre des Weltkriegs. 1917. Nelson, Die
Rechtsewissenschaft ohne Recht. 1917. Redslob, Das Problem des Völker-
rechte. 1917. Lammasch, Das Völkerrecht nach dem Kriege. 1917. Milhoud,
La soci6t& des nations. 1917. Teh&ou-Wei, Essrys sur l’organisation juridique
de la sooi6t6 internat. 1917.
2) 1. Über die von seiten des Deutschen Reiches und seiner Verbündeten
gegen die Kriegsgegner erhobenen Vorwürfe vgl. vor allen die erschöpfende Zu-
sammenstellung bei Müller-Meiningen, Der Weltkrieg 1914 bis 1917 und
der „Zusammenbruch des Völkerrechts“. 4. Aufl. 2 Bde. 1917. Aus den hier
verwerteten zahlreichen Denkschriften des deutschen Auswärtigen Amtes hebe
ich hervor: Denksohr. über die Verletzung der Genfer Konvention durch die Fran-
zosen 1914; über die Behandlung der deutschen Konsuln in Rußland und die
Zerstörung der deutschen Botschaft in Petersburg 1915; über die völkerrechtswidrige
Führung des belgischen Volkskriegs 1915 (dazu belgische Antwort 1916); über
die Ermordung der Besatzung eines deutschen Unterseebootes durch den Komman-
danten des britischen Hilfskreuzerse Baralong vom 19. August 1915 (abgedruckt
K.Z,IX 512; englische Darstellung in Miscellaneous Nr. 1 und 7 von 1916);
über die russischen Greuel 1915; über völkerrechtswidrige Maßnahmen Eng-
lands gegen neutrale Firmen von 1916 dazu Verwahrung der Vereinigten Staaten