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Respect verschafft. Auch sind sie gottesfürchtig, fromm und wißbe-
gierig: — nur das eine fehlt noch, daß sie Gottes Lob in ihrer
Zunge singen.“ «
Dazu will ihnen nun Otfrid verhelfen, indem er das Leben
Christi in gereimten Versen beschreibt. Aber er fängt es recht un-
geschickt an. Er behandelt den Stoff weder rein lyrisch noch rein
episch. Er hat weder eine Reihe frommer Hymnen, noch eine Reihe
epischer Gesänge daraus gemacht. Sein Gedicht ist in Wahrheit
eine gereimte Predigt, worin das Wesentliche der Evangelien in
verschwommener Breite und mit unausstehlicher Wortverschwendung
vergetragen, und nach der Weise damaliger Theologie mit alle-
gorischen Deutungen und ermüdenden Betrachtungen begleitet wird.
Das menschlich Ergreifende des Gegenstandes kommt unter dem ge-
lehrten Schwall nicht zur Geltung. Andere Germanen, welche
biblische Stoffe ver Otfrid behandelten, angelsächsische und nieder-
sächsische Dichter, wußten sie der heimischen Auffassung näher zu
bringen. Sie wußten die fremdartigen heiligen Gestalten in ein
wohlbekanntes Gewand zu hüllen, das ihnen germanisches Ansehen
verlieh. Sie wußten den Gettessohn auf deutsche Erde hernieder-
zuziehen: — da wandelt er als ein germanischer Volkskönig unter
seinen Getreuen, und Jerusalem scheint am Rhein zu liegen. Otfrid
dagegen hat durch gelehrte Bildung sich selber losgelöst von der
Natien. Der mütterlichen Erde entrückt, schlägt er über den Wolken
seinen Sitz auf. Aus dem himmlischen Jerusalem läßt er die Stimme
ertönen und will sein Volk zu sich hinaufrufen. Aber die Entfernung
ist zu groß, wie soll es ihn vernehmen?
Trotzdem bleibt Otfrids Werk ein ehrwürdiges Denkmal des
Ernstes, womit die Deutschen sich des Evangeliums zu bemächtigen
suchten; und nebenbei auch ein Denkmal tiefen deutschen Gemüths.
Das Herz blutet dem Dichter, indem er den betlehemitischen Kinder-
mord erzählt. Er empfindet den Schmerz dieser Mütter nach, wie
er die Mutterfreuden Marias schildert: