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ob die Moral nicht Schaden leide, man sucht zu vermitteln, man
bemüht sich abzuschwächen und zu mildern: kurz man ist ängstlich
und befangen.
Wenn es feststeht, daß seit mehr als hundert Jahren die deutsche
Geisteswissenschaft den Andern das Banner vorträgt, so verhält es
sich nicht ebenso mit der Naturforschung. Engländer, Franzosen,
Deutsche konnten sich gegenseitig mittheilen, bald war dieser voran,
bald jener, wer heute gab, mußte morgen vielleicht empfangen: eine
Rangordnung war kaum möglich und der Austausch längst organi-
sirt: es hatte keine so entscheidenden Folgen, ob man sich durch
Geburt und Erziehung auf den einen oder anderen Culturkreis an-
gewiesen fand.
Darum scheint es uns auch weniger wichtig, die Bethätigung
der Elsässer innerhalb der französischen Naturforschung genauer fest-
zustellen. Nur auf einen Umstand wollen wir hinweisen, da unfere
westlichen Nachbarn gern die Chemie als eine ihnen besonders zu-
gehörige Wissenschaft in Anspruch nehmen. Zwei der bedeutendsten
französischen Chemiker, Karl Friedrich Gerhardt (1816—1856) und
Adolf Wurtz (geb. 1817), stammen aus Straßburg. Beide sind
Schüler von Liebig und beide haben durch Uebersetzungen zwischen
deutscher und französischer Wissenschaft vermittelt.
Aber lassen wir die Naturwissenschaften bei Seite und sehen
wir zu, ob unsere Betrachtungen nicht eine allgemeinere Fol-
gerung gestatten.
Was hat das elsässische Geisteoleben, das nach tausendjähriger
Gemeinsamkeit sich doch nicht gänzlich aus dem alten Verbande
reißen ließ, was hat das elsässische Geistesleben während dieser letzten
sechszig Jahre, der Jahre eines unerhörten Aufschwungs und nie-
gesehenen Fortschritts, was hat es uns Deutschen geleistet?
Geistesleben local, heimatlich, landschaftlich geblieben. Es hat da-
mit Interessen ausschließlich verfolgt, welche die deutsche Wissen-
schaft und Poesie nie vernachlässigt, in denen sie aber auch nie auf-
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