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sucht nach dem Paradies, und die ganze Innigkeit seiner Empfin-
dung trägt er dem Heiland entgegen.
Mit seiner innersten Geistesverfassung, worin das Nationale
völlig dem Christlichen die Herrschaft einräumt, ist Otfrid der rich-
tige Ausdruck jener Bildung, welche Karl der Große in Deutsch-
land anbahnte. —
Was nach Otfrid die elsässischen Klöster geleistet, kann sich mit
den Verdiensten anderer Convente Deutschlands nicht messen. Kein
großer Geschichtschreiber, kein großer Dichter ist daraus hervorge-
gangen. Aber gute Schulen scheint man immer besessen zu haben,
wozu gewiß Frankreich manchen fähigen Lehrer lieferte. Einmal in
dem großen Kampfe zwischen Kaiser und Papst läßt auch das Elsaß
sich vernehmen: ein Priester Mangold zu Lautenbach, der als Gram-
matiker angesehen war, that sich als Heißsporn der ultramontanen
Partei hervor und schrieb eine heftige Schrift in rohem Ton, voll
unwürdiger Schmähungen gegen Kaiser Heinrich IV.
Im übrigen gaben sich die elsässischen Klöster einem Stillleben
hin, das außer frommen Betrachtungen vorzugsweise der bildenden
Kunst gewidmet war. In Marbach verstand man sich auf Malerei,
ein Mönch Sintram wird um 1150 namentlich als Miniator aus-
gezeichnet. Im Nonnenklester Hehenburg (s. oben S. 9) wurde im
zwölften Jahrhundert in sehr gewandter und schöner deutscher Prosa
eine Erklärung des Hohenliedes geschrieben, und auch hier stand
die Malerei in Blüte. Die Aebtissin Herrad von Landsberg
(1167—1195) verfaßte unter dem Titel „Lustgarten“ (Hortus
deliciarum) eine Art illustrirter lateinischer Encyclopädie für Damen,
die sie mit fließenden lateinischen Versen und einer großen Anzahl
von Bildern ausstattete. Diese Bilder, illuminirte Federzeichnungen,
sind hochinteressant und kunstgeschichtlich sehr wichtig. Das Buch
ist auch nach der künstlerischen Seite hin eine Encyclopädie. Man
denke sich unsere photographischen Albums nach den berühmtesten
Künstlern in eine Sammkung vereinigt und mit Bildern aus dem heu-
tigen Leben vermehrt. Man denke sich ferner, daß nach Jahrhunderten