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die durch freiwillige Armuth, dadurch daß sie Familie und Freunde
verließ, auf Vermögen und Weohlleben verzichtete, dadurch daß
sie sich der äußersten Entbehrung, der Verachtung der Menschen,
der grimmigsten Verfolgung aussetzte — in einen solchen Zustand
von Heiligkeit gerathen sei, daß sie ihm selbst weit voraus war.
Aus langen Tagen einsamer Betrachtung und Zurückgezogenheit
kommt sie zu ihm mit den Worten: „Herr, freut Euch mit mir, ich
bin Gott geworden!“ Er versetzt: „Dafür sei Gott gelobt! Gehe
wieder von allen Menschen weg in Deine Einsamkeit: und bleibst
Du Gett, so gönne ich Dir es wol.“ Sie ist ihrem Beichtvater
gehorsam und begibt sich in einen Winkel der Kirche. Da geschah
es ihr, daß sie die ganze Welt vergaß und so weit außer sich ge-
zegen wurde und aus allen geschaffenen Dingen, daß man sie aus
der Kirche tragen mußte und sie drei Tage für todt lag. Wäre ihr
Beichtvater nicht gewesen, man hätte sie begraben. Endlich am
dritten Tage erwachte sie. „Ach, ich Arme, — rief sie aus — bin
ich wieder hier?“ Und nun empfing der Meister ihre Belehrung,
alle Herrlichkeit Gottes schloß sie ver ihm auf und wie man dazu
gelangen könne. Und sie redete soviel ven Gott, daß ihr Beicht-
vater immerzu sprach: „Liebe Tochter, rede weiter.“ Und sie sagte
ihm seviel von der Gräße Gottes und von der Allmacht Gottes
und von der Vorsehung Gettes, daß er von Sinnen kam und daß
man ihn in eine heimliche Zelle tragen mußte und er da lange lag,
bis er wieder zu sich selber kam. „Tochter — sprach er — gelobt
sei Gott, der Dich erschuf! Du hast mir den Weg gezeigt zu
meiner ewigen Seligkeit. Nun flebe ich um der Liebe willen, die
Gott für Dich hat, hilf mir mit Werten und mit Werken, daß ich
ein Bleiben da gewinne, wo ich jetzo bin.“ Sie aber erwidert, das
könne nicht geschehen, er sei noch nicht reif dazu, er würde rasend
werden, wenn er es erzwingen wollte.
Wie mußte einem Laien zu Muthe werden, wenn er diese Er-
zählung las oder hörte. Der gelehrte Meister Eckard, der Stellz
seines Ordens, der zu Paris die ganze theologische Bildung seiner