256 Die Lage um die Jahreswende 18916417
Doppelmonarchie zu übernehmen. Die zentrifugalen Kräfte waren während
des Krieges schon zu stark geworden. Die Mißwirtschaft hatte überhand
genommen. Der Geist in Volk und Heer war vielerorts schlecht. Die
Kriegsmüdigkeit wuchs, die Friedenssehnsucht schwoll immer mehr an. Es
hätte ein besonderer Mann dazu gehört, um der Doppelmonarchie den Kriegs-
willen wiederzugeben und der k. u. k. Armee neues Leben zuzuführen.
Ich habe Kaiser Karl als Erzherzog das erste Mal im Dezember
1914 gesehen. Er machte einen ungemein jugendlichen Eindruck. An-
fang November 1916 traf ich wieder mit ihm zusammen; er hatte sich
entwickelt und war männlicher geworden. Er sprach klar über militärische
Fragen. Die Bürde seines neuen, hohen Amtes sollte aber zu schwer
für ihn werden. Es kam Unruhe in sein Wesen. Er strebte vieles an und
gab vielen und in vielem nach. Er fühlte die innerpolitischen Schwierig=
keiten der Doppelmonarchie, dachte an einen Bund der Völker Österreichs
unter dem Hause Habsburg, vermochte aber gleichzeitig nicht, die Ungarn
zu einer weniger eigennützigen Politik zu veranlassen und sie zur Aufgabe
ihrer Verpflegungsmittelsperre gegenüber Österreich zu bewegen. Charak-
teristisch für sein Handeln war die Begnadigung der tschechischen Führer,
die offen gegen die Monarchie gearbeitet hatten. Seine Sorge vor der
Tschechenbewegung, die ganze Schwäche der Regierung und der Monarchie
wurden dadurch offenkundig. Die Folge war einzig eine Belebung der
auseinandergehenden völkischen Bestrebungen und starkes Mißtrauen bei
den Deutschen, die treu zu ihrem alten Kaiserhause standen. Auch die
Armee fühlte sich in ihrem Empfinden verletzt, vor allem wiederum die
deutschen Offiziere und Soldaten, die sich in altbewährter Tapferkeit für
ihr Kaiserhaus und die Doppelmonarchie schlugen. Unendlich viele ihrer
deutschen Brüder waren durch Übergehen von Tschechen zum Feinde auf
blutiger Wahlstatt gefallen. ·
Der Kaiser war kein überzeugter Anhänger des Bündnisses, hielt indes
an Deutschland fest. Er wollte Frieden; aber in dem Streben, ihn herbeizu-
führen, ging er in den Briefen an seinen Schwager Prinz Sixtus zu weit.
Auf seine Stellung als Oberster Kriegsherr des k. u. k. Heeres war Kaiser
Karl besonders bedacht. Seinem Wunsch gemäß wurden die Festsetzungen
über die oberste Kriegsleitung des Vierbundes geändert und etwas ab-
geschwächt. Er war nicht soldatisch, doch wollte er sein Bestes der Armee geben.
Kaiserin Zita, die einen großen Einfluß auf ihren Gemahl ausübte,
hatte starke politische Neigungen. Leider war sie ganz gegen uns gerichtet
und in den Händen von Klerikern, die nicht unsere Freunde waren.
Minister des Auswärtigen wurde Graf Czernin, ein kluger und
weltgewandter Mann, eine gebildete und liebenswürdige Perfönlichkeit
und der Wilhelmstraße weit überlegen. Im übrigen ging er die gleichen