524 Der Angriff im Westen 1918 *
dlesen nur beipflichten. Bei geistigen Erkrankungen ist es ungemein schwer,
schon früh vollständig klar zu sehen. Man fühlt sie wohl. Erst, wenn der
Ausbruch erfolgt ist, wird das Zurückliegende in vollem Umfange ver-
standen. Die an vielen Stellen eingetretene Zersetzung des Heeres blieb
mir im einzelnen in ihrer ganzen Schwere ebenso fremd, wie Millionen
deutscher Männer die Zersetzung des Volkes daheim, die am 9. November
sich in so überraschender Weise offenbarte. Ich teilte meine Besorgnisse
immer von neuem den Herren mit, die mit mir berufen waren, zu heilen
und die Krankheitserscheinungen zu ergründen. Ich fand kein williges
Gehör. Das deutsche Volk hat es — selbst nicht schuldlos — mit seinem
Leben zu büßen.
Die Ersatzfrage hielt uns dauernd in Spannung. Ich hatte Gelegen-
heit, Seiner Moajestät den Ernst unserer Ersatzlage eingehend zu schildern.
Es war der Wunsch geäußert worden, das sogenannte Asienkorps zu ver-
stärken, um Jerusalem wieder zu nehmen, während ich mit Enver in Rück-
sicht auf unsere Ersatzlage eine Verminderung der deutschen Truppen ver-
abredet und weitere Mannschaftsgestellung nach Palästina verhindert
hatte.
Dem Reichskanzler gegenüber war die Oberste Heeresleitung auf ihre
alten Anträge für Hebung der Ersatzgestellung vom Herbst 1916 und Herbst
1917 zurückgekommen. Ich sandte Oberst Bauer zu den dabei angeregten
Besprechungen nach Berlin. Wir fanden hier nicht die nötige Unterstützung
des Kriegsministeriums. Ende Juni wurden die Beratungen über alle oben
berührten Fragen zwischen dem Reichskanzler, dem Generalfeldmarschall,
dem Kriegsminister und mir in Spaa wiederholt. Ich knüpfte an die
Berliner Besprechung des Obersten Bauer an und äußerte mich nochmals
überaus ernst zu der Notwendigkeit, Ersatz zu schaffen, gegen Drücke-
berger und Deserteure in der Heimat mit den schärfsten Maßnahmen vor-
zugehen und vor allem auf die Kampfentschlossenheit des Volkes zu
wirken, wobei ich wieder auf die Gefahren eines Teils unserer Presse, der
feindlichen Propaganda und des Bolschewismus hinwies.
Ich’habe über alle diese Punkte noch viel öfter gesprochen, als ich es
hier in dieser Niederschrift anführe. Auch diesmal wurde mir viel zugesagt.
Die Zustände aber änderten sich nicht. Ich weiß nicht, ob die Herren meine
Angaben für übertrieben oder für eine Ausgeburt meines „Militarismus“
hielten. Auch mein Wunsch, Arbeitgeber und Arbeitnehmer in gemein-
samer Zusammenkunft über die Notwendigkeit aufzuklären, Reklamierte
frei zu bekommen, wurde vom Kriegsamt nicht verwirklicht.
Inzwischen hatte ich von neuem versucht, unsere Erfolge zur Stärkung
der Friedensbewegung beim Feinde auszunutzen. Dem Reichskanzler war
eine neue Denkschrift hierüber übersandt worden. Er bat am 19. Juni