Ansprache Wilsons an den Senat 339
Erinnerung, auf denen der geschlossene Friede nicht dauernd, sondern nur wie auf
Triebsand ruhen würde. Nur ein Friede zwischen gleichen Mächten kann dauern, nur
einer, dessen innerstes Wesen Gleichheit und gleiche Teilnahme an gemeinsamem
Vorteil und. Der rechte Geisteszustand, die richtige Stimmung zwischen Völkern ist
für einen dauernden Frieden ebenso notwendig wie eine gerechte Regelung schwieriger
Fragen des Gebiets oder der Stammes= und Nationalzugehörigkeit.
Die Gleichheit der Völker, auf der ein dauernder Friede begründet sein muß, muß
eine Gleichheit ihrer Rechte sein. Die ausgetauschten Bürgschaften dürfen zwischen
großen und kleinen, starken und schwachen Natonen einen Unterschied weder anerkennen
noch voraussetzen. Das Recht aller, nicht einzelner, muß auf der Stärke der Völker
ruhen, von deren Einvernehmen der Friede abhängen wird. Dabei kann es natürlich
keine Gleichheit des Gebietes und der Machtmittel geben, wie überhaupt keine Gleichheit,
die nicht aus der friedlichen und gesetzlichen Entwicklung der Völker selbst herrührt; aber
miemand verlangt und erwartet mehr als eine Gleichheit der Rechte. Die Menschheit
sehnt sich heute nach der Freiheit des Lebens, nicht nach einem Gleichgewicht der
Mächte.
Aber noch eine tiefere Angelegenheit als selbst die Gleichheit des Rechts zwischen
organisierten Nationen hängt hiermu zusammen. Kein Friede kann oder soll dauern,
der nicht den Grundsat anerkennt und anmmmt, daß die Regierungen alle ihre gerechte
Macht nur von der Zustimmung der Regierten erhalten und daß es nirgends ein
Recht gibt, Volker von einer Landesherrschaft an die andere zu übertragen, als ob sie
Sachen wären. Ich halte zum Beispiel für sicher, wenn ich ein einzelnes Beispiel
wagen darf, alle Staatsmänner sjummen darin überein, daß es ein geeintes, un-
abhyangiges und selbstandiges Polen geben und daß in Zukunft die unverletzliche
Sicherheit des Lebens, des Glaubens und der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ent-
wicklung allen Teilen dieses Volkes verbürgt werden sollte, die bisher unter der Macht
von Regierungen feindlichen Glaubens und Willens lebten.
OIch spreche davon, nicht weil ich einen abstrakten politischen Grundsatz nach-
drücklich unterstreichen will, der von jeher den Erbauern amerikanischer Freiheit teuer
war, sondern aus dem gleichen Grunde, aus dem ich über die übrigen mir unerläßlich
scheinenden Vorbedingungen des Friedens gesprochen habe: weil ich ganz aufrichtig
enthüllen möchte, was ist. Jeder Friede, der nicht diesen Grundsatz anerkennt und an-
nimmt, wird unvermedidlich scheitern. Er wird nicht auf den Neigungen und Uber-
zeugungen der Menschheit ruhen. Der gärende Geist ganzer Bevolkerungen wird
sindig und beständig dagegen ankämpfen, und die ganze Welt wird ihm Beifall geben.
Die Welt kann nur friedlich sein, wenn ihr Leben steuig verläuft, eine solche Stetigkeit
kann es aber nicht geben, wo ein rebellischer Wille ohne Ruhe des Geistes, ohne Sinn
für Gerechtigkeit, Freiheit und Recht ist.
Außerdem solte, soweit möglich, jedem Volk, das jetzt um die volle Entwicklung
seiner Mittel und seiner Macht kampft, ein unmittelbarer Zugang zu den großen Ver-
rehrsstraßen des Meeres zugebilligt werden. Wo dies nicht durch Gebietsabtretungen
geschehen kann, kann es zweirfellos durch die Neutralisierung unmittelbarer Wegerechte
unter der allgemeinen Friedensbürgschaft geschehen. In einer echten Rechtsgemeinschaft
draucht kein Volk vom freien Zutritt zu den offenen Pfaden des Welthandels aus-
geschlossen zu bleiben.
Und die Wege der See müssen rechtlich und tatsächlich frei sein. Die Freiheit
der See ist die notwendige Bedingung des Friedens, der Gleichheit und der gemeinsamen
Arbeit. Zweifellos wird auch eine ziemlich tiefgehende Umgestaltung vieler Völker-
rechtsregeln, die bisher als fesistehend erachtet wurden, notwendig sein, um die Meere
so gut wie in allen Fällen für den Gebrauch der Menschheit tatsächlich frei und ge-
meinsam zu machen, aber die Notwendigkeit einer solchen Umgestaltung ist überzeugend
und zwingend; ohne sie kann kein Vertrauen und keine Freundschaft zwischen den
Völkern der Welt bestehen. Der freie, beständige und unbedrohte Verkehr zwischen
den Völkern ist ein wesentlicher Teil des Friedens und der Entwicklung. Es kann nicht
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