434 XIX. Der Friedensvorschlag des Papstes und der „englische Friedensfühler“
7.
Schriftwechsel zwischen Reichskanzler und Generalfeldmarschall.
Der Reichskanzler an den Generalfeldmarschall (mir nicht zugänglich;
bekanntgegeben durch den Ministerpräsidenten Bauer).
Nach Abschluß der gestrigen Verhandlungen unter Vorsitz Seiner Majestät des
Kaisers drängt es mich, Ihnen und dem General Ludendorff den Dank dafür aus-
zusprechen, daß Sie beide in so weitsichtiger Weise und weitab vom einseitigen Stand-
punkt militärischer Gesichtspunkte mich darin unterstützt haben, maßvolle Kriegsziele
für den Fall zu umgrenzen, daß wir bald, etwa im Herbst oder Frühjahr, zu Friedens-
verhandlungen kommen. Ich nehme als Forderungen der Obersten Heeresleitung, an
denen unbedingt nach Ihrer Meinung festgehalten werden muß, in unsere Verhand-
lungspläne auf, daß Sie beide zum Schutz unserer westlichen Industrie in erster
Linie Lüttich und ein Sicherungsgelände fordern, daß Sie beide von dem wirklichen
engen wirtschaftlichen Anschluß Belgiens einen Zustand erhoffen, der den Belgiern
in Zukunft aus rein egoistischen wirtschaftlichen Gründen ausgeschlossen erscheinen
lassen wird, mit uns in kriegerische Differenzen zu geraten, so daß daher, wenn für
Belgien alles getan werde, was zur Sicherung des wirtschaftlichen Anschlusses von
uns gefordert wird — was natürlich mehrere Jahre von den ersten Friedensverhand-
lungen ab dauern würde —, die militärische Sicherung fortfallen kann: Lüttich usw.
würde daher nur als Sicherheitsfaktor oder auf Zeit gefordert werden.
An Eure Exzellenz habe ich nun die dringende Bitte, daß, wenn die zu erwar-
tenden Besucher ins Hauptquartier kommen, die einer einseitig annexionistischen Rich-
tung angehören (ich selbst habe z. B. dem Grafen Westarp zureden lassen, einmal
nach Österreich zu fahrenl!), und die von den großen Zusammenhängen bei den
Bundesgenossen wenig wissen und deshalb noch immer geneigt sind, einen Frieden
bezüglich Belgiens auf der angedeuteten Grundlage als einen faulen anzusehen, ihnen
von Ihrer Auffassung Kenntnis zu geben, damit die extremen Wünsche eingedämmt
werden. Man muß den Leuten vorhalten, was die Feinde mit uns vorhatten, und
was wir erreichten: statt Vernichtung und Länderraub: im Westen intakte Grenzen
und die gesicherte Aussicht der Nutzung der Rohstoffe in den besetzten Gebieten, günstige
Wirtschafts= und Verkehrsentwicklung auf Eisenbahnen und Wasserstraßen, Vorzugs-
plätze im Hafen von Antwerpen, Einfluß auf die deutsch-orientierte flämische Bevöl-
kerung, Auferlegung zum Selbsttragen der von uns den Nachbarn zugefügten schweren
Schäden, Ausschaltung des englischen Einflusses an der Küste Flanderns und Nord-
frankreichs und die Forderung des Rückerwerbes unserer Kolonien als Ausgleichs-
objekt.
(Von hier bis zum Schluß vom Mirnisterpräsidenten Bauer in seiner Rede am
28. Juli 1919 nicht verlesen. Damit wurde der Sinn der Antwort vollständig entstellt.)
Dazu kommt, was wir im Osten an Macht und Einfluß in politischer, wirt-
schaftlicher und militärischer Beziehung hinzuerwerben.
Sieht so ein „Hunger“-, ein Verzichtfrieden aus? Wer wird wagen, Deutschland,
das sich drei und vier Jahre weit im feindlichen Land siegreich gegen eine vielfache
Übermacht behauptet, das noch letzthin eine unvergleichliche Probe seiner Schlagkraft
im entfernten Osten gab, je wieder anzugreifen?
Rein, unsere Stürmer und Dränger sollen sich beruhigen! Wenn wir auf obiger
Grundlage unserem armen, gequälten Volke und der Welt den Frieden verschaffen
können, dann sollen wir es tun und nicht einen Monat länger eines noch so wertvollen
Stützpunktes wegen Krieg führen.
Helfen Sie also, bitte, für Aufklärung zu sorgenl!
Ich behaupte, daß es den Vertretern der Regierung auch nicht vorübergehend
gelungen wäre, mir mit einem gewissen Erfolg auf einen Teil ihrer Wähler vorzu-
werfen, daß ich ein „Friedensangebot“ in unverantwortlicher Weise von der Hand
gewiesen hätte, wenn mein Brief vollständig verlesen worden wäre. gez. Michaelis.