Verantwortlichkeitsfragen 463
Ungarn in sich birgt, muß daher vermieden werden. Von diesem Gesichts-
punkt aus müssen die Grenzsicherungen betrachtet werden. Die aus der
polnischen Lage, wie sie heute ist, entspringenden Gefahren verkenne ich
keineswegs. Sie entspringen aber dem Zustand, wie er durch Errichtung
des selbständigen polnischen Staates geschaffen worden ist, einem Zustand,
den ich als vollendete Tatsache vorgefunden habe, und mit dem politisch
wir uns jetzt abfinden müssen.
Rußland gegenüber ist die außerordentlich schwierige Aufgabe zu lösen,
ein gutes wirtschaftliches und politisches Verhältnis mit dem neuen Ruß-
land herzustellen, uns den Rücken militärisch vollständig freizumachen,
gleichzeitig aber von dem bisherigen Rußland gewaltige Gebietsteile los-
zulösen und diese Gebietsteile zu wirkungsvollen Bollwerken an unserer
Grenze auszugestalten. Diesen Zweck hätte man, da wir zweifellos die Sieger
sind und Rußland kraft unserer militärischen Machtstellung unseren Willen
aufzwingen können, durch glatte Annexion der in Frage kommenden Ge-
biete erreichen können. Damit hätten wir aber, für die nächste Zeit wenig-
stens, ein erträgliches Verhältnis zu Rußland unmöglich gemacht, wir
hätten unsere Bevölkerungsverhältnisse ungünstig verschoben und wir hätten
im eigenen Lande eine so starke Opposition gefunden, daß eine Durch-
führung der Annexion ausgeschlossen gewesen wäre, da sie ohne die ver-
fassungsmäßige Mitwirkung der Parlamente nicht möglich ist. Es blieb
also die Aufgabe, das erstrebte Ziel ohne die Annexion der Gebietsteile zu
erreichen. Hierzu war es zunächst nötig, die Russen dazu zu bringen, daß
sie, ohne Rücksicht auf ihre Verbündeten, mit uns und unseren Bundes-
genossen verhandelten, wir mußten also die Entente offiziell sprengen, um
einen Separatfrieden mit Rußland zu schließen. Diesem ersten Ziel galt
die Erklärung vom 25. Dezember, die einen Schachzug in dem im Osten
begonnenen politischen Kampf darstellte. Materiell ist diese Erklärung
durch die am 27. Dezember ihr gegebene Auslegung zu unseren Gunsten
soweit eingeschränkt worden, wie es nach Lage der Dinge möglich war,
formell bildete sie eine Grundlage für die weitere Entwicklung der politi-
schen Lage, wie wir sie erstrebten. Die obersten militärischen Stellen
haben unmittelbar nach Bekanntwerden der Erklärung vom 25. Dezember
schriftlich und mündlich ihre Bedenken gegen die eingeschlagene Taktik ge-
äußert: Die Verhandlungsleiter in Brest-Litomsk waren durch diese
Stellungnahme überrascht, da die Erklärung in vollem Einvernehmen mit
dem Vertreter des Generals Ludendorff, Herrn General Hoffmann, in aus-
führlichen Erörterungen festgestellt worden war'). Da übrigens die Stellung-
*) General Hoffmann war der Ansicht, daß diese Erklärung in Kreuznach fest-
gestellt sei; das war nicht der Fall gewesen. In Kreuznach war anders besprochen,
das entsprach der anscheinend vorliegenden Ansicht des Reichskanzlers, viele Fragen,
an deren Lösung wir beteiligt waren, dilatorisch zu behandeln. Der Verfasser.