584 XXII. Friedensverhandlungen
Offizier, der sich mir vorstellen ließ und mich in ein Gespräch zog, was er
mir dadurch erleichterte, daß er mit großer Achtung von Deutschland und
mit Bewunderung vom deutschen Heere und seinen Führern sprach. Am
meisten habe ihm der Rückzug im Spätsommer und Herbst 1918 impo-
niert, er sei großartig geleitet und großartig durchgeführt worden. Wohl
habe die Übermacht der Alliierten die deutsche Front zurückgedrängt, als
aber der Kampf abgebrochen wurde, sei die Front nicht durchstoßen, die
Kraft des deutschen Heeres nicht gebrochen gewesen, die Alliierten hätten
sich militärisch noch nicht als Sieger fühlen können. Man dürfe nicht über-
sehen, daß auch die Heere der Alliierten in den schweren Kämpfen hart mit-
genommen gewesen seien. Fest gerechnet auf den Endsieg habe man erst
für dieses Jahr nach Einsatz frischer Amerikaner und Anwendung neuer
Tanks usw. Daran liege es, daß man in England und Frankreich an die
Wehrlosigkeit Deutschlands nicht glauben könne, sondern mit der Möglich-
keit einer Wiederaufnahme bewaffneten Widerstandes rechnen müssse.
Wohl habe Deutschland einen großen Teil seines Kriegsmaterials verloren,
aber wehrlos könne es mit solchen Führern und Soldaten nicht sein, und
ein Wiederaufleben des Kampfes nach längerer Pause würde auch für die
Alli#erten eine ernste Probe bedeuten. Er verfolge aufmerksam die deutsche
Presse, er habe bemerkt, daß man diese Besorgnis der Alliierten für Heuche-
lei halte, er könne aber versichern, daß es nicht Heuchelei sei, sondern tat-
sächlich mit solchen Möglichkeiten gerechnet werde. Er sähe aus den
deutschen Zeitungen, daß man die Wehrlosigkeit mit der Revolution be-
gründe. Das könne er nicht verstehen. Österreich sei infolge des Ausein-
anderfalls des Staates wehrlos geworden, aber die Geschichte lehre, daß
eine Revolution an sich noch niemals ein Volk wehrlos gemacht habe.
Cromwell habe den Ausbau des Heeres als seine wichtigste Aufgabe an-
gesehen, und die Puritaner hätten über eine Armee verfügt, wie sie das
königliche England niemals gekannt habe. Ebenso hätten die Niederländi-
schen Generalstaaten, die ja auch durch Revolution entstanden seien, eine
Musterarmee geschaffen. Die französischen Revolutionäre von 1789 seien
sofort ans Werk gegangen, das Heer zu erhalten und zu verstärken, nur
dadurch seien sie imstande gewesen, alle Angriffe äußerer Gegner siegreich
abzuschlagen, und Napoleon habe mit diesem Heere die halbe Welt er-
obert. Auch Kerenski und Lenin hätten für die Erhaltung des Heeres
gesorgt. Revolutionäre Staaten seien wegen der Ansteckungsgefahr in der
Nachbarschaft nicht beliebt und müßten doch aus Selbsterhaltungstrieb an
die Verteidigung gegenüber dem Auslande denken. Man könne es den
Alliierten nicht verargen, wenn sie hinter der angeblichen Wehrlosigkeit
eine Falle witterten. Er selbst könne an die Wehrlosigkeit Deutschlands
nicht recht glauben."“