Die Abwehr im Stellungskriege 619
angriff brauchen alle diese Vorbereitungen erst nach dem Entschluß zum Angriff
getroffen zu werden. Zur Ausführung ist Zeit reichlich vorhanden, da es nicht darauf
ankommt, ob der Angriff früher oder später geführt wird. Beim Gegenstoß hin-
gegen muß den Führern und Unterführern der zum Gegenstoß bereitgestellten Truppen
und nach Möglichkeit auch diesen selbst vor dem Beginn des feindlichen Angriffs die
Möglichkeit zu diesen Vorbereitungen gegeben werden und eine dauernde enge Ver-
bindung über die Einzelheiten der taktischen Lage zwischen den Führern der zum
Gegenstoß bestimmten Truppen und den vorn befindlichen Führern bestehen. Sonst
sind Verluste und Fehlschläge die unvermeidlichen Folgen. Es ist die ernste Pflicht
der oberen Führung, dafür zu sorgen, daß ein Verband niemals in ihm völlig un-
bekannte Kampfverhältnisse geworfen wird. Die untere Führung hat die ihr hierfür
gegebene Zeit auf das sorgsamste auszunutzen. Dies gilt sowohl für den Einsatz der
kleinen örtlichen Reserven, wie für die weiter rückwärts befindlichen größeren Truppen-
körper.
Zu vermeiden ist, daß zur Erfüllung einer Angriffsaufgabe, ob Gegenangriff
oder Gegenstoß, zu starke Infanteriekräfte angesetzt werden. Die Ein-
greifdivisionen werden nur sehr selten zum geschlossenen Einsatz kommen. Je be-
schränkter die Angriffsziele des Feindes werden, desto mehr muß die Stellungsdivision
mit eigenen Kräften auskommen. Der Führer muß sich stets fragen, mit wie wenig
Infanterie er auskommen kann. Die Stärke, auch der angriffsweisen Verteidigung,
liegt keineswegs in der Masse der Truppen, sondern in der geschickten Art der Ver-
wendung, insbesondere im guten Zusammenwirken der Waffen und in der Schnellig-
keit und Energie des Handelns. Die Führung — bis herab zum Gruppenführer —
spielt daher eine ausschlaggebende Rolle. Immer wieder muß erstrebt werden,
größere Verbände (Kompagnien, Bataillone) zu einheitlichem Handeln zu-
sammenzufassen, ohne sie jedoch durch örtliche Massierung unnötigen Verlusten auszu-
setzen. Bei feindlichem Großangriff erreichen einzelne Leute oder sehr kleine Abtei-
lungen oft mehr durch Schießen als durch Vorlaufen.
Ablöfung. 44. Häufige Ablösung der Infanterie ist vom Standpunkt der Truppe
und von dem der Truppenführung unerwünscht, da der Wechsel die Eingewöhnung
verhindert und den Eifer für den Stellungsbau verringert. Während einer schweren
Schlachthandlung leidet jedoch eine in die vorderen Linien eingesetzte Truppe in
wenigen Tagen, selbst bei geringen blutigen Verlusten, durch die seelischen Eindrücke
derart, daß ihre Gefechtskraft erheblich beeinträchtigt wird. Sie muß abgelöst werden,
bevor sie ausgebrannt ist. Die Führung wird sonst gezwungen, neue Truppen über-
eilt und unvorbereitet in den Kampf zu werfen und dadurch deren Gefechtskraft von
vornherein zu schädigen.
Die abgelöste Truppe muß, soweit sie nicht abbefördert
und an einer ruhigen Front eingesetzt werden kann, außerhalb
des feindlichen Artilleriefeuerbereichs zurückgezogen werden:;
nur dann ist die Wiederherstellung ihrer Kampfkraft und erneuter Einsatz nach kurzer
Zeit möglich.
45. Erfahrungsgemäß kommen bei Ablösungen leicht Unordnung und Verlust
von Geländestücken vor. Eingehende Vorbereitung und schärfste Aufsicht sind not-
wendig, um Abbröckeln während des Vormarsches der ablösenden Truppe oder vor-
zeitiges Verlassen der Stellung seitens der abgelösten Truppe zu vermeiden.
Verlusten bei der Ablösung muß durch Ausbau der Verbindungs= und Annähe-
rungsgräben vorgebeugt werden. Stark beschossene Geländeteile sind zu vermeiden,
Kolonnenwege mit Wegweisern (Leuchtfarbe) festzulegen; die Mitgabe von Führern
und Wegestizzen ist erforderlich. Die beste Marschform bei Nacht außerhalb der
Gräben ist Reihenkolonne; bei Tage können sich oft nur einzelne Leute sprungweise
bewegen.
Der abzulösende Truppenteil hat wenigstens so lange Kommandos in der
Stellung zurückzulassen, bis durch Offiziere, die nach jeder Ablösung die Stellung ab-