Full text: Urkunden der Obersten Heeresleitung über ihre Tätigkeit 1916/18

Denkschrift vom Dezember 1912 55 
  
  
das französische Heer in freiem Felde angreifen und schlagen zu können. Wir 
werden auf diesem Wege das englische Expeditionskorps und — wenn es 
nicht gelingt, mit Belgien zu einem Vertrage zu kommen — auch die belgi- 
schen Truppen vor uns finden. Gleichwohl ist diese Operation aussichtsreicher 
als ein frontaler Angriff gegen die befestigte französische Ostfront. Ein 
solcher Angriff würde der Kriegführung den Charakter des Festungskrieges 
aufzwingen, viel Zeit kosten und dem Heere den Schwung und die Initiative 
nehmen, deren wir um so mehr bedürfen, je größer die Zahl der Feinde ist, 
mit denen wir abzurechnen haben. 
Würde Italien heute noch wie vor 20 Jahren, als gemeinsame Offensive 
verabredet wurde, bereit sein, in der damals geplanten energischen Weise an 
der Kriegführung teilzunehmen, so würde man der vereinigten deutsch- 
italienischen Operation einen fast sicheren Erfolg zusprechen können. Leider 
ist dies nicht mehr der Fall. Die Hilfe Italiens wird über die Fesselung ver- 
hältnismäßig schwacher französischer Kräfte gegenüber der Alpengrenze 
nicht hinausgehen. Deutschland ist auf seine eigene Kraft angewiesen, es 
kann daher nicht stark genug sein. 
Ist es so einerseits nötig, die aktive Wehrkraft des Deutschen Reiches 
wesentlich zu erhöhen, so springt anderseits die Wichtigkeit der Verstärkung 
unserer Befestigungen an der Ostfront, also dort, wo wir gezwungen sein 
werden, uns defensiv zu verhalten, in die Augen. 
Die Anlages) trägt vorstehend geschilderter Lage und den Stärkeverhält- 
nissen Rechnung, wie sie nach diesseitiger Beurteilung für den derzeitigen 
Kriegsfall einzusetzen sein werden. Sie zeigt klar die Schwierigkeiten, mit 
denen der Dreibund und in erster Linie Deutschland zu rechnen hat. Die 
Zahlen sprechen für sich selbst. 
In der Anlage unter I sind die Kräfte, die Deutschland bei einem Kriege 
gegen die Triple-Entente im Westen ins Feld stellen kann, in Bataillonen, 
Schwadronen und Batterien den auf seiten Frankreichs und Englands ver- 
fügbaren Kräften gegenübergestellt. Die Tabelle ergibt eine Unterlegenheit 
Deutschlands um 124 Bataillone; wenn Belgien dem Gegner zugerechnet 
wird, um 192 Bataillone. Die italienische Armee ist — da sie nicht kommt — 
fortgelassen; dafür die französische Alpenarmee, die durch Italien gefesselt 
sein wird, ebenfalls in Abrechnung gebracht""). Wäre die dritte italienische 
Armee nach Deutschland gebracht, so würden beide Verbündete eine geringe 
Überlegenheit gehabt haben. Ob aber Italien jetzt 2 oder 12 Armeekorps 
hinter seiner Alpengrenze versammelt, ist für uns belanglos. Ein Forcieren 
dieser Grenze ist außerordentlich schwierig. Bis sie geöffnet ist, wird das 
*) Ist nicht in meinem Besitz. Sie enthielt eine Aufrechnung unserer Streitkräfte 
und der unserer voraussichtlichen Gegner. Der Verfasser. 
*## Dies trat 1914 nicht ein, unsere Unterlegenheit war erheblich größer. D. Vers.
	        
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