Gefechtsvorschrift für die Artillerie 693
Kampfaufgaben. 259. Der Kräftebedarf für den Angriff ergibt sich in
erster Linie aus den Kampfaufgaben, demnächst aus der Güte und Stärke der eigenen
Truppen und der Stärke der anzugreifenden Stellung. Die wahrscheinliche zahlen-
mäßige Stärke des Gegners ist erst in letzter Linie zu berücksichtigen.
260. Die Artillerie soll:
a) zusammen mit den Minenwerfern die anzugreifende Stellung mit den in
ihrem Bereich befindlichen Anlagen und der Besatzung sturmreif machen, mit ihrem
Feuer der angreifenden Infankerie unmittelbar vorangehend den Gegner niederhalten
und bei der Abwehr von Gegenstößen mitwirken,
b) die Infanterie vor, während und nach dem Sturm vor dem Feuer der feind-
lichen Arkillerie schützen,
c) durch Beschießen der rückwärtigen Reserven und ihrer Stellungen oder Ver-
bindungen, Parks, Unterkünfte, Befehlsstellen usw. die gesamte Kampftäligkeit des
Gegners rückwärks der Stellung flören.
261. Jum Sturmreifmachen (Ziff. 260a, ogl. auch Ziff. 54 und 58) ist es not-
wendig, die anzugreifende Infanteriestellung in möglichster Tiefe und in allen wichti-
gen Teilen so zu zerstören, daß die Gräben, besonders die für Verkehr und Verbindung
gebrauchten, und die besetzten Kampfgräben größtenteils eingeebnet, die leichteren Ein-
deckungen zerstört, bei stärkeren wenigstens die Eingänge verschüttet, die Flankierungs-
anlagen, Maschinengewehre, Minenwerfer außer Gesecht gesetzt und die Hindernisse an
den entscheidenden Stellen gangbar sind.
Aber selbst eine zerstörte Stellung ohne Unterstände und Hindernisse gewährt
einem hartnäckigen Verteidiger genügende Widerstandsmöglichkeit. Die Trichter dienen
als Deckungen. Völlige Vernichkung ihrer Besatzung ist für die Artillerie eine meist
unlösbare Ausgabe.
Von gleicher oder sogar größerer Bedeutung als die Zerstörungswirkung ist daher
die moralische Wirkung gegen die lebende Besatzung. Sie wird als Rebenwirkung des
Zerstörungsschießens erreicht und gesteigert durch die Größe der verwendeten Kaliber,
durch räumliche und zeitliche Zusammenfassung des Feuers (Vernichtungsfeuer) und
durch dauernde Störung der Verbindungen und damit der gesamten Versorgung des
Feindes.
Das Sturmreifmachen durch Zerstörung erfolgt in der Hauptsache durch schwere
und leichte Feldhaubitzen. Gegen besonders stark ausgebaute Teile der Stellung (Stütz-
punkte, zur Verteidigung eingerichtete Ortschaften, Wälder, Befestigungsgruppen usw.)
sind Mörserbatterien und zum Teil auch schwerstes Steilfeuer anzusetzen. Aber auch
Feldkanonen, namentlich mit Langgranaten, sind zum Sturmreifschießen brauchbar.
Die Batterien, die das Sturmreifschießen ausführen, gehen während des In-
fanterieangriffs mit ihrem Feuer der angreifenden Infanterie unmittelbar voran,
wobei sie dem Tempo des Vorwärtskommens der Infanterie sich anpassen. Sie sollen
die noch vorhandenen Verteidiger in ihren Unterständen, Gräben und Trichtern fest-
halten, bis die eigene Infanterie in die feindlichen Stellungen eingebrochen ist. Sie
sollen ferner durch ihr ständig fortgesetztes Feuer den Gegner über den Augenblick und
Umfang des Angriffs täuschen. Inwieweit weitere Batterien, besonders Feldkanonen,
die vor dem Infanterieangriff für andere Aufgaben eingesetzt waren, hierfür mit heran-
gezogen werden, ist von Fall zu Fall verschieden.
Eine Anzahl von Batterien, besonders leichte Artillerie, muß außerdem bereil-
stehen, um sich gegen ungedeckt herankommende feindliche Verstärkungen, Panzer-
kraftwagen usw. zu wenden und bei der Abwehr von Gegenstößen mitzuwirken.
Außerdem sollen Infanteriegeschütze, in Ermangelung solcher auch Feldkanonen,
die bis zum Beginn des Sturmes verborgen gehalten werden, die Infanterie beim
Sturm unmittelbar unterstützen, indem sie mit ihr zusammen von Mannschaften zug-
oder geschützweise nachgeschleppt, vorgehen und etwa noch vorhandene Widerstands-
punkte, wie besetzte Häuser, Maschinengewehrstände usw., aus nächster Nähe mit
direktem Granatschuß zerstören.