72 II. Hilfsdienstgesetz, Ersatz= und Arbeiterfragen
Was die bei Ausbruch des Krieges über 45 Jahre alten und daher
nicht mehr heerespflichtigen Männer angeht, so ist die weit überwiegende
Mehrzahl der arbeitsfähigen und kräftigen Männer in Bergwerksbetrieben,
in der Eisenindustrie, in Munitionsfabriken oder sonst in der Schwerin=
dustrie, die heutzutage ausnahmslos für Kriegszwecke beschäftigt ist, sowie
schließlich in der Landwirtschaft tätig. Soweit es sich um Männer handelt,
deren Kräfte infolge ihrer ungünstigen Gesundheitsbeschaffenheit für diese
schwere Arbeit nicht geeignet sind, sind diese in anderen Industrie= und
Gewerbszweigen (Textilindustrie, pharmazeutische Instrumente, optische
Industrie, Handwerk) beschäftigt; ihre Tätigkeit kommt wiederum unmittel-
bar oder mittelbar der Kriegswirtschaft zugute. Die nicht mehr kriegs-
dienstpflichtigen Rentner sind in Deutschland eine so seltene Erscheinung,
daß der Versuch, aus diesem Kreise Arbeitskräfte in einem auch nur einiger-
maßen ins Gewicht fallenden Umfang zu gewinnen, im voraus zur Ergeb-
nislosigkeit verurteilt wäre.
Die Annahme, es könnten für die Waffen= und Munitionsfabriken
neue männliche Arbeitskräfte in beträchtlichem Umfang im Wege des
Zwanges durch die Überführung aus anderen Industriezweigen oder durch
die Einführung einer Arbeitspflicht für arbeitsfähige, aber jetzt nicht arbei-
tende Männer gewonnen werden, erscheint mir deshalb nicht begründet.
Die für die Bergwerksindustrie, Feuer= und Schwerindustrie brauchbaren
Leute sind schon durch die Höhe der Arbeitslöhne nahezu ausnahmslos
dazu bestimmt worden, in die eigentliche Kriegsindustrie überzutreten.
Dies gilt ganz besonders für diejenigen Arbeiter, deren Arbeitskraft wegen
der durch Materialmangel gebotenen Betriebseinschränkungen gewisser In-
dustriezweige in ihren bisherigen Stellen nicht mehr in vollem Umfang
ausgenutzt werden konnte. Es kann der deutschen Industrie und Bevölke-
rung die Anerkennung nicht versagt werden, daß sie es in geradezu be-
wunderungswürdiger Weise verstanden haben, sich den Bedürfnissen der
Kriegswirtschaft anzupassen und ihre Betriebe in überraschend kurzer Zeit
und mit vollem Erfolg aus freiem Antrieb in den Dienst der Vaterlands-
verteidigung zu stellen. Ich besorge, daß durch zwangsweise, in ihrem
praktischen Ergebnis von vornherein auf ganz geringfügige Wirkungen be-
schränkte Eingriffe von außen her diese gesunde Anpassung gestört und der
ganze Aufbau unserer Wirtschaft ins Wanken gebracht werden könnte.
Soweit von staatlicher Seite der Übertritt arbeitsfähiger Elemente von
der Friedens= in die Kriegsindustrie hat gefördert werden können, ist dies
sowohl durch die positiven Maßnahmen der Arbeitsvermittlung wie auch
negativ durch die Verhinderung von Kapital- und Arbeitsaufwand für
Zwecke, die der Kriegführung nicht zugute kommen, bereits geschehen. Ab-
gesehen von dem durch Rohstoffmangel oder durch die Notwendigkeit einer