Über den heutigen Stand der Militär-Rechtswissenschalt u -Gesetzgebung. 95
die Gesetzgebung des allgemeiuen Strafrechts zur Grundlage zu nehmen
hat. Dieser Grundsatz ist im jüngsten Militär-Strafgesetze, nämlich dem
des deutschen Reiches anerkannt, indem dasselbe die allgemeinen Grund-
sätze des Reichs-Strafgesetzes (über bösen Vorsatz, Zurechnungsfähig-
keit, die Straf-Ausschließungsgründe u. s.w) auch für die Militärdelicte
anwendbar erklärt, und indem nach demselben die im Militär-Straf-
gesetze nicht vorhergesehenen Delicte der Militärpersonen nach dem
Reichs-Strafgesetze zu behandeln sind.
Wie die Gesetzgebung des Militär-Strafrechtes das allgemeine
Strafgesetz, so hat die Wissenschaft des Militär-Strafrechts die Straf-
Rechtswissenschaft zu seiner Grundlage zu nehmen. Die Aufgabe der
Militär-Rechtswissenschaft ist es nicht, die Wissenschaft des allgemeinen
Strafrechtes zu fördern, sie hat vielmehr das durch die Straf-Rechts-
wissenschaft Geleistete als etwas Gegebenes anzunelımen, und sich im
Geiste der Straf-Rechtswissenschaft mit den für das Heer bestehenden
Sonderbestimmungen zu beschäftigen. Die wissenschaftliche Behandlung
des Militär-Strafrechts hat daher dieselbe wie die des allgemeinen Straf-
rechts zu sein. Die wissenschaftliche Behandlung des Strafrechts ist
aber eine empirische, eine rechtsphilosophische, eine rechtshistorische,
eine rechtsvergleichende und kritische.
Die bloß empirische Behandlung des Strafrechts ist
jene, welche den durch die Gesetzgebung gegebenen Stoff als etwas in
sich Abgeschlossenes ansieht, und sich damit begnügt, die gesetzlichen
Bestimmungen „aus sich heraus“ zu erläutern. Es ist zwar richtig, dass
alles Recht seiner Natur nach positiv ist. In einem Staate gilt nur das
durch dessen Gesetzgebung anerkannte Recht, und ist daher eine em-
pirische Behandlung des Rechts, welche sich zur Aufgabe macht, das
durch die Gesetzgebung gegebene Material zusammenzutragen und zu
sichten, eine nothwendige. Allein da kein Ding dem Begriffe an sich
vollkommen entspricht, so wird auch kein Gesetz dem begriffsmäßigen
Rechte gleichkommen. Die Wissenschaft hat aber den Zweck, den reinen
Begriff zum Bewusstsein zu bringen.!) Wenn eine empirische Behand-
lung des Rechtes auch eine nothwendige ist, so 'kann sich eine wissen-
schaftliche Bearbeitung mit derselben nicht begnügen. Vergleicht doch
schon Kant die bloß empirische Rechtslehre mit einem Kopfe ohne
Gehirn. Eine wissenschaftliche Bearbeitung des Militär-Strafrechts hat
daher gleich der des allgemeinen Strafrechts auch den rechtsphilo-
sophischen Standpunkt einzunehmen.
Die leitenden Grundsätze herauszufinden und von ihnen ausgehen.
den inneren Zusammenhang und die Art der Verwandtschaft aller juristi-
1!) Berner, „Lehrbuch des deutschen Strafrechts“, S. 5.