Der Zeitgeist und das Militär-Strafrecht. 109
Wie mit der Literatur, verhält es sich mit der Religion. Die Re-
formation konnte nur zu einer Zeit entstehen, da das gesammte Volk
religiösen Sinn und an dogmatischen Streitfragen Interesse hatte. In
unserem Zeitalter haben leider Reform-Bestrebungen auf religiösem Ge-
biete keine nachhaltige Wirkung. Bei dem großen Aufschwunge, welchen
Gewerbe und Industrie genommen haben, stehen vielmehr wirtschaft-
liche und sociale Fragen im Vordergrund, und wird die Zukunft lehren,
welches Ende der Kampf zwischen Capital und Arbeit nehmen und
welche Lösung die sociale Frage erfahren wird.
Für die Entwicklung und Fortbildung des Rechtes ist das Ar-
beiten des Zeitgeistes stets von Bedeutung, da das Recht die juristisch
formulierte Consequenz der jeweilig bestehenden gesellschaftlichen Ver-
hältnisse ist. Wie jedes Volk, so hat auch jede Zeit ihr eigenes Recht.
Umgestaltungen, die im socialen, religiösen und überhaupt geistigen
Leben eintreten, führen auch Umwandlungen auf dem Rechtsgebiete
herbei. „Das Recht wächst mit dem Volke, bildet sich aus mit diesem
und stirbt endlich ab, sowie das Volk seine Eigenthümlichkeit ver-
liert.* ?)
Den Gegenstand unserer Besprechung bildet die Einwirkung
des Zeitgeistes auf die Gestaltung des Militär-Strafrechts.
Wie auf dem Rechtsgebiete überhaupt, so hat der Zeitgeist auch auf
dem Gebiete des Militärrechts wichtige Veränderungen herbeigeführt
und strebt das Militärrecht in seiner Fortentwicklung dahin, ein Theil
des Rechtsorganismus eines Rechtsstaates zu werden, welcher die För-
derung der Humanität und Cultur zu seiner Aufgabe hat. Ein Theil
des Militärrechts ist allerdings von jeher, soweit unsere rechtshistori-
schen Kenntnisse zurückreichen, bis auf die heutige Zeit unverändert
geblieben, nämlich das System der Militär-Delicte. Schlagen wir das
Corpus juris Kaiser Justinianus’, in welchem die Fragmente der rö-
mischen Juristen über das Militär-Strafrecht der Römer enthalten sind,
die Kriegsartikel und „Reuter-Bestallungen“ der deutschen Kaiser und
Fürsten, oder des Schwedenkönigs Gustav Adolf, oder ein modernes
Militär-Strafgesetzbuch auf, so finden wir eine überraschende Überein-
stimmung in Bezug auf die Gattung der Militär-Delicte, eine Überein-
stimmung, welche beweist, dass die militärischen Pflichten zu allen Zeiten
und bei allen Nationen dieselben sind, und die Bestrafung der Über-
tretung derselben durch das Wesen des Heeres, dasselbe mag was immer
für eine Gestalt haben, immer und überall geboten ist. Der Zeitgeist
hat hingegen umgestaltend auf das Militärrecht eingewirkt, indem er
1) Savigny, „Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissen-
schaft“, S. 11.