Über den heutigen Stand der Militär-Rechtswissenschaft u. -Gesetzgebung. 85
wundern müssen und dass einer der größten Beweise der Gesittung
unseres Jahrhunderts ist, dass der alte römische Satz: „Unter den
Waffen schweigen die Gesetze“ nicht mehr gilt. Dieser Ansicht Steins
über die Fortschritte der Militär-Rechtswissenschaft kann nicht unbe-
dingt beigetreten werden. Die Römer hatten bereits ein ausgebildetes
Militär-Strafrecht. Es bestand schon nach römischem Recht ein System
von Militärdelicten, welches jenem der gegenwärtig in Geltung stehen-
den Militär-Strafgesetze analog ist. Eine Übereinstimmung zwischen
dem römischen Recht und den heutigen Militär-Strafgesetzen besteht
sogar in Bezug auf jene Umstände, welche für die Strafmilderung oder
Verschärfung maßgebend sind. Der römische Satz: „Inter arma silent
leges“ bezog sich nur auf deu Feind. Der Feind war nach antiker
Auffassung rechtlos, der Krieg war ein Kampf gegen alle Untertlianen
des feindlichen Staates, während heutzutage der Krieg nur unter den
Staaten durch deren Heere geführt wird, und Recht und Billigkeit, so-
weit es die militärische Nothwendigkeit zulässt, auch gegen den Feind
beobachtet wird. Das Verdienst, die Kriegführung im Sinne der Hu-
manität umgestaltet zu haben, gebürt den Fortschritten auf dem Ge-
biete des Völkerrechts.
Der Grund der bisherigen stiefimütterlichen Behandlung des Militär-
rechts durch die Rechtswissenschaft ist theilweise in der Gestaltung
des Heerwesens in früheren Zeiten gelegen. Bei dem \Werbesystem
strömten dem Heere Leute aus allen Ländern zu, welche den Kriegs-
beruf als Handwerk ansahen und nur um den Sold dienten. Wenn in
früheren Jahrhunderten dem Heere auch edle Elemente angehörten, so
bestand doch ein großer Theil desselben aus Söldlingen, welche nicht
der Patriotismus beseelte, welche bald für die eine, bald für die andere
Sache kämpften. Die für das Heer erlassenen Strafnormen wurden ledig-
lich als ein nothwendiges Übel angesehen, sie hatten ja nur den Zweck,
die Disciplin unter den angeworbenen Soldaten aufrecht zu erhalten,
und beruhten daher durchgehends auf der alten Abschreckungs-
Theorie. — Ganz anders ist das Heerwesen gegenwärtig infolge der
allgemeinen Wehrpflicht gestaltet. Es ist die Pflicht eines jeden wehr-
haften Bürgers, in den Reihen des Heeres seines Vaterlandes zu dienen.
Das Heer ist der Stolz des Volkes. Mit dem Sohne des schlichten Land-
mannes dient der Sohn des reichen Edelmannes. Das Recht ist für
alle gleich, es soll gleicher Lohn für die Pfliclhterfüllung, gleiche Strafe
für die Pflichtverletzung sein. Die Worte Freiheit, Gleichheit und
Brüderlichkeit in ihrer edelsten Bedeutung (nicht in der Bedeutung,
in welcher diese Worte nur zu häufig missbraucht wurden) gelten für
das Heer. Frei ist der Soldat innerhalb der Grenzen des Gesetzes und
den Geboten des militärischen Gehorsams, Gleichheit besteht in Bezug