8 16. Zweite Kammer. Geschichtliche Entwicklung des Wahlrechts. 129
welche 25 Jahre alt sind, eine direkte Staatssteuer zahlen und seit mindestens 6 Monaten
im Orte der Listenaufstellung niedergelassen sind, besondere Ausschlußgründe vorbehalten.
Bei dieser zweiten Hälfte sollte aber auch Verhältniswahl stattfinden und ein
beschränktes Mehrstimmenrecht: zwei Stimmen für Ansässigkeit mit Wohnhaus,
Versteuerung eines Einkommens von mehr als 1600 M., oder wissenschaftliche Bildung
des Einjährig-Freiwilligen. 15)
Diese Vorlage gab in der zweiten Kammer Anlaß zu sehr lebhaften Verhandlungen,
die in einer großen Verwirrung endigten. Schließlich griff man, um nur etwas zu be-
schließen, eine Qußerung des Ministers auf, und beschloß unter Verwerfung der den Grund-
gedanken der Vorlage bildenden Zweiteilung eine einheitliche Wahl nach Mehrstimmen-
recht, aber so, daß alle besonders zu berücksichtigenden Wähler nicht zwei, sondern durchweg
vier Stimmen führen sollten, gegenüber einer Stimme der anderen. 20)
In der ersten Kammer wurde sofort erkannt, daß dieser Weg nicht gangbar war. Der
bestellten Deputation gelang es aber, im Benehmen mit der Regierung und den einfluß-
reichsten Mitgliedern der zweiten Kammer einen neuen Gesetzentwurf herzustellen, der
von der ermüdeten Volksvertretung gerne angenommen wurde. Er beruht auf einer
genauer ausgebauten Ordnung des Mehrstimmenrechtes, wie solche auch in der zweiten
Kammer schon einmal nahe an der Annahme gestanden hatte.1)
19) Aus der Begründung: „Nach Ansicht der Regierung können Besitz und Bildung bei un-
bedingter Festhaltung am allgemeinen Stimmrecht in der Weise wirksam geschützt werden, daß
den Wählern der großen Masse nur je eine Stimme, denjenigen Wählern aber, welche in beson-
derem Maße als Vertreter von Bildung und Besitz gelten dürfen, zwei Stimmen eingeräumt
werden“ (Landt.-Akten 1907/08, Dekrete, Bd. III S. 54). Ein so niedrig bemessenes Mehrstimmen-
recht würde aber für sich allein, meinte man, „keinen Schutz dagegen bieten, daß die Besitzenden
und Gebildeten durch die Massen vergewaltigt werden könnten“. Daher die Notwendigkeit der
Verhältniswahl (a. a. O. S. 57). Immerhin rechnete man auf eine sozialdemokratische Mehr-
heit, welche diese Wahlen bringen könnten. Daher ihnen nur die Hälfte der Sitze überlassen wird,
für die andre sollen die „Wahlen durch Kommunalverbände“ eine zuverlässige Reserve liefern.
Der Gedanke einer solchen Zweiteilung ist wohl wesentlich durch Schaeffle angeregt worden
(Ztschft. f. Staatsw. Bd. 46 S. 261 ff.). Er empfiehlt, neben Abgeordneten des allgemeinen Stimm-
rechts „das Volk zugleich in seinem gliedlichen Aufbau aus Kommunalbürgerschaften heranzu-
ziehen“, und betrachtet das als eine „Hetämpfung der Sozialdemokratie ohne Ausnahmegesetze“.
Bgl. auch Landt.-Akten a. a. O. S. 57, 58. Der so zustande gekommene Regierungsentwurf
konnte nicht verfehlen, den Eindruck einer gewissen Mannigfaltigkeit zu machen.
20) Zwischen den Parteien war zuerst eine Art Kompromiß zustande gekommen (das
dann freilich an dem Streit um die Wahlkreiseinteilung scheiterte)auf Verwerfung der Zweiteilung
und einheitliche Wahl mit abgestuftem Mehrstimmenrecht. Die Regierung machte aber nun die
schon in der Begründung des Entwurfs hervorgehobene Besorgnis geltend, daß ein mäßiges Mehr-
stimmenrecht nicht schütze; daher die Forderung der vierfachen Stimmenzahl, welcher die Kammer
schließlich zustimmte — nicht ohne große Bedenken. Vgl. Deputationsbericht vom 23. Nov. 1908
S. 88 ff. (Landt.-Akten 1908/09 Berichte der II. Kammer Bd. III). Tatsächlich würde das, da
auch die allgemeine Verhältniswahl abgelehnt war, zu der von der Regierung vorausgesehenen
anderen Seite des „Dilemmas“ geführt haben: zur Erdrückung des Wahlrechts der Besielosen
(Begründung S. 57; vgl. oben Note 19).
21) Die Deputation (Berichterstatter Dr. Wach; Landt.-Akten 1908/09 Berichte d. I. K.,
1. Bd. S. 17 f.) verfuhr so, daß sie vier Vorschläge nebeneinander den führenden Mitgliedern
der zweiten Kammer zur Auswahl vorlegte. Die Justummung der ersten Kammer wie der Re-
gierung war für alle vier in Aussicht zu nehmen. Es waren folgende:
1. Der ursprüngliche Plan der Regierung: Kommunalwahlen und allgemeine Wahlen
mit schwachem Mehrstimmenrecht, im einzelnen etwas anders geformt — von vornherein
aussichtslos.
2. Allgemeine Wahlen nach stärkerem Mehrstimmenrecht, aber nicht mehr vier Stimmen
und eine, sondern abgestuft — der Plan, der Gesetz wurde.
3. Kontingentierung der Besitzlosen: alle die nach den andern Vorschlägen mit Mehr-
stimmenrecht bedacht sein sollen, wählen zusammen nach gleichem Recht 82 Abgeordnete, die
Otto Mayer, Sächsisches Staatsrecht. 9